Wen­de­zeit

Das öffent­li­che Gespräch über die Jahre 1989/90 darf kein Selbst­ge­spräch des Wes­tens bleiben

Ich war 1989 31 Jahre alt gewor­den und arbei­tete als Kin­der­psy­cho­lo­gin in Ber­lin-Mar­zahn. Vier mei­ner fünf Kin­der waren schon gebo­ren. Das damals jüngste im Som­mer 1988. Wir leb­ten im Ber­li­ner Stadt­be­zirk Hel­lers­dorf, an Ost­ber­lins Peri­phe­rie. Seit Mitte der 1980er Jahre hat­ten wir einem Kreis der DDR-Oppo­si­tion nahe­ge­stan­den, der im Herbst 1989 die Initia­tive für eine Ver­ei­nigte Linke aus­rief. Rich­tig aktiv waren wir nicht gewor­den. Der Kin­der wegen, meinte ich damals, aber das ist wohl falsch. Erst im Som­mer 1989 began­nen wir, uns im Stru­del der sich über­schla­gen­den Ereig­nisse fast täg­lich zu Ver­samm­lun­gen und Zusam­men­künf­ten aufzumachen.

Ich erin­nere mich, dass ich damals anders durch die Stra­ßen lief als zuvor. Traute mich, einen rie­si­gen, pink­b­lau­schwar­zen, breit­krem­pi­gen Samt­hut auf­zu­set­zen, den ich schon einige Jahre zuvor beses­sen hatte, aber nach kur­zen Tra­ge­ver­su­chen immer schnell wie­der abge­setzt hatte. Ich erin­nere mich, dass viele Men­schen ein­an­der damals sehr offen ins Gesicht sahen, wort­los viel­sa­gend, auf der Suche nach Gleich­ge­sinn­ten. Die lange U-Bahn-Fahrt von Hel­lers­dorf zur gro­ßen Demons­tra­tion auf dem Ber­li­ner Alex­an­der­platz am 4. Novem­ber 1989 ist mir beson­ders im Gedächt­nis. Jeder wusste vom ande­ren, dass er das glei­che Ziel hatte. Wir lächel­ten, spra­chen uns Mut zu, ris­sen Witze, wir waren am Mor­gen selbst­be­wusst erwacht und vol­ler Ener­gie, die Ver­hält­nisse zum Tan­zen zu brin­gen. Wir waren die flä­chen­de­ckende Begleit­erschei­nung der poli­ti­schen Bewe­gung, deren Hand­lungs­form am 10. Sep­tem­ber 1989 auf Betrei­ben einer klei­nen Frau, Bär­bel Boh­ley, durch die Grün­dung des Neuen Forums gesetzt wor­den war: Es sollte um Dia­log gehen, um Gene­ral­aus­spra­che der poli­ti­schen Strö­mun­gen im Land, um Basis­de­mo­kra­tie der eige­nen Bewe­gung und Gewalt­lo­sig­keit von bei­den Sei­ten. Alle Bür­ger der DDR waren auf­ge­ru­fen, sich daran zu beteiligen.

Im frü­hen Herbst 1989 war an ein Auf­ge­hen der DDR in der Bun­des­re­pu­blik nicht zu den­ken. Der im Kal­ten Krieg auf­recht­erhal­tene Sta­tus quo zwi­schen Ost und West stand für uns so fest wie die Mauer, deren Fall auch darum nicht zu unse­ren Zie­len gehö­ren konnte. Auch wenn welt­po­li­tisch noch ganz andere Bedin­gun­gen und Rand­be­din­gun­gen wirk­sam waren, wurde aber mit der Grün­dung des Neuen Forums der Auf­takt einer ost­deut­schen Demo­kra­tie­be­we­gung kennt­lich. Inner­halb von Wochen unter­schrie­ben 200.000 Men­schen den Auf­ruf des Neuen Forums, obwohl Innen­mi­nis­ter Fried­rich Dickel ihn zu einem feind­li­chen Papier erklärt hatte. Neben den gro­ßen Demons­tra­tio­nen, die noch heute in vie­ler Munde sind, waren es wenig spä­ter z. B. die Bil­dung von Bür­ger­ko­mi­tees, Abset­zung von Betriebs­lei­tun­gen und Bür­ger­meis­tern, Aktio­nen wie die Schlie­ßung und Ver­sie­ge­lung der Erfur­ter Bezirks­ver­wal­tung des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit durch Erfur­ter Frauen am 4. Dezem­ber, die die Instal­la­tion des Zen­tra­len Run­den Tisches drei Tage spä­ter erzwan­gen. Viele kom­mu­nale und the­men­be­zo­gene Runde Tische ent­stan­den, an denen tat­säch­lich für kurze Zeit Ent­schei­dun­gen zur Ver­wal­tung der Oblie­gen­hei­ten der Bür­ger getrof­fen wur­den. Selbst­be­stimmt­heit war dabei, lan­des­weit Maxime des Bür­ger­han­delns zu wer­den. Für wenige Wochen, viel­leicht drei, vier Monate. Die­ses im Ost­block ein­zig­ar­tige Phä­no­men rührte zu einem guten Teil aus der lan­gen Erfah­rung des sozia­len Gleich­ge­stellt­s­eins des über­wie­gen­den Teils der Bevöl­ke­rung – damit meine ich übri­gens kei­nes­wegs eine ein­heit­li­che poli­ti­sche Aus­rich­tung. Die Regie­ren­den hat­ten sich in Wand­litz ver­schanzt und stan­den außer­halb des sozia­len DDR-Gefü­ges. Die einst durch­ge­zo­gene Ver­staat­li­chung des Pro­duk­ti­ons- wie des beschei­de­nen Dienst­leis­tungs­sek­tors hatte ebenso wie die glei­che Art Schul­bil­dung für alle spä­tes­tens ab den 1970er Jah­ren ein ver­än­der­tes Sozi­al­ver­hal­ten zur Folge. In den Betrie­ben lös­ten sich die unte­ren Hier­ar­chie­stu­fen auf, Arbei­ter waren Ange­stell­ten gleich­ge­stellt, und auch Ange­hö­rige der Intel­li­genz ord­ne­ten sich zuneh­mend in den Kreis der soge­nann­ten Werk­tä­ti­gen ein, statt in einer ima­gi­nä­ren Hier­ar­chie auf­zu­stei­gen. Ja, diese Ver­hält­nisse waren eigen­ar­tig und erzeug­ten, gewiss unbe­ab­sich­tigt von denen, die uns diese Gesell­schafts­form auf­ok­troy­iert hat­ten, eine Sozi­al­dy­na­mik, die ten­den­zi­ell zur Umkehr der Hier­ar­chien neigte und mit der man sich mit Kraft und Geduld im All­tag der Arbeit eini­ges erkämp­fen konnte.

Auch das führte dazu, dass 1989/90 die damals Erwach­se­nen aller Alters­stu­fen nicht nur Betriebs­lei­ter absetz­ten, son­dern die Redak­tio­nen ihrer Zei­tun­gen und Zeit­schrif­ten aus­wech­sel­ten, Ver­än­de­run­gen des Fern­seh­pro­gramms erzwan­gen und z. B. Sen­dun­gen wie Elf99 zu einem kri­ti­schen, gern gese­he­nen, mit für viele Zuschauer ein­drucks­vol­len Repor­ta­gen gespick­ten Jugend­ma­ga­zin mach­ten. Ein ers­ter Besuch im noch nicht abge­wi­ckel­ten Wand­litz etwa, am 23. Novem­ber 1989. Der Repor­ter Jan Car­pen­tier war zuvor nicht gerade ein Oppo­si­tio­nel­ler gewe­sen, son­dern hatte vor nicht allzu lan­ger Zeit sein Stu­dium am Roten Klos­ter, der Jour­na­lis­tik-Sek­tion an der Uni­ver­si­tät Leip­zig, absol­viert. Wer das tun konnte, musste schon bereit und auch in der Lage sein, sich den par­tei­ge­steu­er­ten Aus­bil­dungs­in­hal­ten zu fügen. Und nun ging er auf das Gelände der Bon­zen­sied­lung, war auf Tat­sa­chen aus. Eigent­lich wie ein guter Jour­na­list. Er filmte und stellte es den Zuschau­ern frei, sich ihren Reim auf das Gese­hene zu machen. Er blieb sich nicht, son­dern er wurde sich treu.

Und wenn ich mich nun daran erin­nere, wie schnell es nach 1990 keine grö­ßere Zei­tung, keine Rund­funk- oder Fern­seh­sta­tion in ost­deut­scher Hand mehr gab, obwohl die Medi­en­land­schaft sich ebenso schnell ver­än­dert hatte wie das ganze kleine Land, muss ich doch zuge­ben: Damit waren die große Aus­spra­che, die Erin­ne­rung, ja, die Selbst­ver­stän­di­gung, die sich eine ganze Bevöl­ke­rung eben erst auf­ge­schlos­sen hatte, passé. Das folgte der öko­no­mi­schen Logik und fühlte sich wie Ent­mün­di­gung an. Wie Beleh­rung. Ich weiß, wie das klingt, wie sich das anhört. Ich sage es ohne Arg, ohne Klage. Ich erin­nere mich. Ich stelle fest, wie etwas wirkte, das über uns kam. Statt Aus­spra­che mit­ein­an­der zu hal­ten, waren wir Zuhö­rer gewor­den. Die Läh­mung folgte auf dem Fuß.

Neben öko­no­mi­scher Logik gibt es auch eine soziale Logik, nach der die Gesell­schafts­form der DDR in den auf den Herbst 1989 fol­gen­den Wochen ihren tota­li­tä­ren Cha­rak­ter ver­lo­ren hatte. Wie die ost­deut­sche Demo­kra­tie­be­we­gung sich im Sep­tem­ber 1989 bil­dete und wie der Ver­lauf der für mich nicht fried­li­chen, son­dern nur weit­ge­hend gewalt­lo­sen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Staats­ap­pa­rat ver­lief, spre­chen deut­lich dafür. Des­halb glaube ich, dass, wenn die DDR aus­schließ­lich mit inzwi­schen alt gewor­de­nen Begriff­lich­kei­ten wie Unrechts­staat, zweite deut­sche Dik­ta­tur usw. cha­rak­te­ri­siert wird, die ihr in einer Zeit vor dem Herbst 1989 zuge­spro­chen wur­den, die im Herbst 1989 zutage getre­tene ost­deut­sche Gesell­schaft nicht gefasst wer­den kann.

Das ist nun 30 Jahre her. Man kann sagen, das hat sich doch längst über­holt. Das gilt doch heute alles nicht mehr. Wer ist über­haupt ost­deutsch? Ein im Osten Gebo­re­ner? Und ist ein in Ost­deutsch­land Leben­der ein Ost­deut­scher, auch wenn er im Wes­ten zur Welt kam? Das ist doch alles kein Thema mehr für jün­gere Leute, die nach dem Mau­er­fall gebo­ren wur­den. Das nivel­liert sich doch rasch … In die­sem Fall bin ich aber Psy­cho­lo­gin genug, zu sagen, dass ein ten­den­zi­ell ega­li­tä­res Auf­wach­sen zu ande­rer psy­chi­scher Grund­kon­sti­tu­tion führt als eines in ten­den­zi­ell eli­tä­ren Ver­hält­nis­sen. Erfah­run­gen wer­den über Gene­ra­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben, ohne dass man etwas dafür oder dage­gen tun kann. Auch heute noch sind im Osten Gebo­rene unter­re­prä­sen­tiert in bun­des­deut­schen Höhen, und das auch auf dem Gebiet des Ostens. Poli­tik, Jus­tiz, Wis­sen­schaft, für alle sicht- und fühl­bar auch Woh­nungs­ei­gen­tum, vor allem in Ost­deutsch­lands soge­nann­tem Pre­mi­um­seg­ment – über­wie­gend in west­deut­scher Hand. Aus­län­der gera­ten mit 24 Pro­zent häu­fi­ger in Lei­tungs­po­si­tio­nen der Wis­sen­schaft als Ost­deut­sche mit 15 Prozent.
Drei von 60 Staats­se­kre­tä­ren im Jahr 2018 waren ost­deutsch, ebenso 4 von 154 Bot­schaf­tern. In Füh­rungs­po­si­tio­nen sind sie noch sel­te­ner als Frauen anzu­tref­fen. In der Bun­des­wehr gab es 2018 zwei Ost­deut­sche unter 202 Gene­rä­len und Admi­ra­len, aber die Hälfte aller im Kosovo und in Afgha­ni­stan sta­tio­nier­ten Sol­da­ten stammte aus dem Osten. In den neuen Bun­des­län­dern waren 2018 nur 13,3 Pro­zent Rich­ter aus Ost­deutsch­land beschäf­tigt, an Bun­des­ge­rich­ten gar nur 3 von 336, wie Fron­tal 21 berich­tet. Das ließe sich belie­big erweitern.

Als Klaus Wolf­ram, 1989 Pro­gramm­ko­or­di­na­tor des Neuen Forums und Mit­glied in des­sen Spre­cher­rat, Anfang Novem­ber 2019 in einem Vor­trag vor den Mit­glie­dern der Ber­li­ner Aka­de­mie der Künste zu dem Schluss kam, das öffent­li­che Gespräch über die Jahre 1989/90 gli­che hier­zu­lande einem Selbst­ge­spräch des Wes­tens über den Osten, war der Affront gesetzt. Ein Ost-West-Affront, den wir längst zu Grabe getra­gen geglaubt hat­ten. Genervt scheint der Wes­ten vom plud­ri­gen, pie­fi­gen, unver­ständ­li­chen Osten, der deut­schen Pro­vinz. Das darf er. Ich aber danke Klaus Wolf­ram für die Inspi­ra­tion zu die­sem Text, denn ich würde gern etwas dazu bei­tra­gen, dass das nicht so bleibt.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2020.

Von |2020-04-06T14:29:44+02:00April 6th, 2020|Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Das öffent­li­che Gespräch über die Jahre 1989/90 darf kein Selbst­ge­spräch des Wes­tens bleiben

Kathrin Schmidt ist Schriftstellerin und Sprecherin der Deutschen Literaturkonferenz.