Kathrin Schmidt 6. April 2020 Logo_Initiative_print.png

Wen­de­zeit

Das öffent­li­che Gespräch über die Jahre 1989/90 darf kein Selbst­ge­spräch des Wes­tens bleiben

Ich war 1989 31 Jahre alt geworden und arbeitete als Kinderpsychologin in Berlin-Marzahn. Vier meiner fünf Kinder waren schon geboren. Das damals jüngste im Sommer 1988. Wir lebten im Berliner Stadtbezirk Hellersdorf, an Ostberlins Peripherie. Seit Mitte der 1980er Jahre hatten wir einem Kreis der DDR-Opposition nahegestanden, der im Herbst 1989 die Initiative für eine Vereinigte Linke ausrief. Richtig aktiv waren wir nicht geworden. Der Kinder wegen, meinte ich damals, aber das ist wohl falsch. Erst im Sommer 1989 begannen wir, uns im Strudel der sich überschlagenden Ereignisse fast täglich zu Versammlungen und Zusammenkünften aufzumachen.

Ich erinnere mich, dass ich damals anders durch die Straßen lief als zuvor. Traute mich, einen riesigen, pinkblauschwarzen, breitkrempigen Samthut aufzusetzen, den ich schon einige Jahre zuvor besessen hatte, aber nach kurzen Trageversuchen immer schnell wieder abgesetzt hatte. Ich erinnere mich, dass viele Menschen einander damals sehr offen ins Gesicht sahen, wortlos vielsagend, auf der Suche nach Gleichgesinnten. Die lange U-Bahn-Fahrt von Hellersdorf zur großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 ist mir besonders im Gedächtnis. Jeder wusste vom anderen, dass er das gleiche Ziel hatte. Wir lächelten, sprachen uns Mut zu, rissen Witze, wir waren am Morgen selbstbewusst erwacht und voller Energie, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Wir waren die flächendeckende Begleiterscheinung der politischen Bewegung, deren Handlungsform am 10. September 1989 auf Betreiben einer kleinen Frau, Bärbel Bohley, durch die Gründung des Neuen Forums gesetzt worden war: Es sollte um Dialog gehen, um Generalaussprache der politischen Strömungen im Land, um Basisdemokratie der eigenen Bewegung und Gewaltlosigkeit von beiden Seiten. Alle Bürger der DDR waren aufgerufen, sich daran zu beteiligen.

Im frühen Herbst 1989 war an ein Aufgehen der DDR in der Bundesrepublik nicht zu denken. Der im Kalten Krieg aufrechterhaltene Status quo zwischen Ost und West stand für uns so fest wie die Mauer, deren Fall auch darum nicht zu unseren Zielen gehören konnte. Auch wenn weltpolitisch noch ganz andere Bedingungen und Randbedingungen wirksam waren, wurde aber mit der Gründung des Neuen Forums der Auftakt einer ostdeutschen Demokratiebewegung kenntlich. Innerhalb von Wochen unterschrieben 200.000 Menschen den Aufruf des Neuen Forums, obwohl Innenminister Friedrich Dickel ihn zu einem feindlichen Papier erklärt hatte. Neben den großen Demonstrationen, die noch heute in vieler Munde sind, waren es wenig später z. B. die Bildung von Bürgerkomitees, Absetzung von Betriebsleitungen und Bürgermeistern, Aktionen wie die Schließung und Versiegelung der Erfurter Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit durch Erfurter Frauen am 4. Dezember, die die Installation des Zentralen Runden Tisches drei Tage später erzwangen. Viele kommunale und themenbezogene Runde Tische entstanden, an denen tatsächlich für kurze Zeit Entscheidungen zur Verwaltung der Obliegenheiten der Bürger getroffen wurden. Selbstbestimmtheit war dabei, landesweit Maxime des Bürgerhandelns zu werden. Für wenige Wochen, vielleicht drei, vier Monate. Dieses im Ostblock einzigartige Phänomen rührte zu einem guten Teil aus der langen Erfahrung des sozialen Gleichgestelltseins des überwiegenden Teils der Bevölkerung – damit meine ich übrigens keineswegs eine einheitliche politische Ausrichtung. Die Regierenden hatten sich in Wandlitz verschanzt und standen außerhalb des sozialen DDR-Gefüges. Die einst durchgezogene Verstaatlichung des Produktions- wie des bescheidenen Dienstleistungssektors hatte ebenso wie die gleiche Art Schulbildung für alle spätestens ab den 1970er Jahren ein verändertes Sozialverhalten zur Folge. In den Betrieben lösten sich die unteren Hierarchiestufen auf, Arbeiter waren Angestellten gleichgestellt, und auch Angehörige der Intelligenz ordneten sich zunehmend in den Kreis der sogenannten Werktätigen ein, statt in einer imaginären Hierarchie aufzusteigen. Ja, diese Verhältnisse waren eigenartig und erzeugten, gewiss unbeabsichtigt von denen, die uns diese Gesellschaftsform aufoktroyiert hatten, eine Sozialdynamik, die tendenziell zur Umkehr der Hierarchien neigte und mit der man sich mit Kraft und Geduld im Alltag der Arbeit einiges erkämpfen konnte.

Auch das führte dazu, dass 1989/90 die damals Erwachsenen aller Altersstufen nicht nur Betriebsleiter absetzten, sondern die Redaktionen ihrer Zeitungen und Zeitschriften auswechselten, Veränderungen des Fernsehprogramms erzwangen und z. B. Sendungen wie Elf99 zu einem kritischen, gern gesehenen, mit für viele Zuschauer eindrucksvollen Reportagen gespickten Jugendmagazin machten. Ein erster Besuch im noch nicht abgewickelten Wandlitz etwa, am 23. November 1989. Der Reporter Jan Carpentier war zuvor nicht gerade ein Oppositioneller gewesen, sondern hatte vor nicht allzu langer Zeit sein Studium am Roten Kloster, der Journalistik-Sektion an der Universität Leipzig, absolviert. Wer das tun konnte, musste schon bereit und auch in der Lage sein, sich den parteigesteuerten Ausbildungsinhalten zu fügen. Und nun ging er auf das Gelände der Bonzensiedlung, war auf Tatsachen aus. Eigentlich wie ein guter Journalist. Er filmte und stellte es den Zuschauern frei, sich ihren Reim auf das Gesehene zu machen. Er blieb sich nicht, sondern er wurde sich treu.

Und wenn ich mich nun daran erinnere, wie schnell es nach 1990 keine größere Zeitung, keine Rundfunk- oder Fernsehstation in ostdeutscher Hand mehr gab, obwohl die Medienlandschaft sich ebenso schnell verändert hatte wie das ganze kleine Land, muss ich doch zugeben: Damit waren die große Aussprache, die Erinnerung, ja, die Selbstverständigung, die sich eine ganze Bevölkerung eben erst aufgeschlossen hatte, passé. Das folgte der ökonomischen Logik und fühlte sich wie Entmündigung an. Wie Belehrung. Ich weiß, wie das klingt, wie sich das anhört. Ich sage es ohne Arg, ohne Klage. Ich erinnere mich. Ich stelle fest, wie etwas wirkte, das über uns kam. Statt Aussprache miteinander zu halten, waren wir Zuhörer geworden. Die Lähmung folgte auf dem Fuß.

Neben ökonomischer Logik gibt es auch eine soziale Logik, nach der die Gesellschaftsform der DDR in den auf den Herbst 1989 folgenden Wochen ihren totalitären Charakter verloren hatte. Wie die ostdeutsche Demokratiebewegung sich im September 1989 bildete und wie der Verlauf der für mich nicht friedlichen, sondern nur weitgehend gewaltlosen Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat verlief, sprechen deutlich dafür. Deshalb glaube ich, dass, wenn die DDR ausschließlich mit inzwischen alt gewordenen Begrifflichkeiten wie Unrechtsstaat, zweite deutsche Diktatur usw. charakterisiert wird, die ihr in einer Zeit vor dem Herbst 1989 zugesprochen wurden, die im Herbst 1989 zutage getretene ostdeutsche Gesellschaft nicht gefasst werden kann.

Das ist nun 30 Jahre her. Man kann sagen, das hat sich doch längst überholt. Das gilt doch heute alles nicht mehr. Wer ist überhaupt ostdeutsch? Ein im Osten Geborener? Und ist ein in Ostdeutschland Lebender ein Ostdeutscher, auch wenn er im Westen zur Welt kam? Das ist doch alles kein Thema mehr für jüngere Leute, die nach dem Mauerfall geboren wurden. Das nivelliert sich doch rasch … In diesem Fall bin ich aber Psychologin genug, zu sagen, dass ein tendenziell egalitäres Aufwachsen zu anderer psychischer Grundkonstitution führt als eines in tendenziell elitären Verhältnissen. Erfahrungen werden über Generationen weitergegeben, ohne dass man etwas dafür oder dagegen tun kann. Auch heute noch sind im Osten Geborene unterrepräsentiert in bundesdeutschen Höhen, und das auch auf dem Gebiet des Ostens. Politik, Justiz, Wissenschaft, für alle sicht- und fühlbar auch Wohnungseigentum, vor allem in Ostdeutschlands sogenanntem Premiumsegment – überwiegend in westdeutscher Hand. Ausländer geraten mit 24 Prozent häufiger in Leitungspositionen der Wissenschaft als Ostdeutsche mit 15 Prozent.
Drei von 60 Staatssekretären im Jahr 2018 waren ostdeutsch, ebenso 4 von 154 Botschaftern. In Führungspositionen sind sie noch seltener als Frauen anzutreffen. In der Bundeswehr gab es 2018 zwei Ostdeutsche unter 202 Generälen und Admiralen, aber die Hälfte aller im Kosovo und in Afghanistan stationierten Soldaten stammte aus dem Osten. In den neuen Bundesländern waren 2018 nur 13,3 Prozent Richter aus Ostdeutschland beschäftigt, an Bundesgerichten gar nur 3 von 336, wie Frontal 21 berichtet. Das ließe sich beliebig erweitern.

Als Klaus Wolfram, 1989 Programmkoordinator des Neuen Forums und Mitglied in dessen Sprecherrat, Anfang November 2019 in einem Vortrag vor den Mitgliedern der Berliner Akademie der Künste zu dem Schluss kam, das öffentliche Gespräch über die Jahre 1989/90 gliche hierzulande einem Selbstgespräch des Westens über den Osten, war der Affront gesetzt. Ein Ost-West-Affront, den wir längst zu Grabe getragen geglaubt hatten. Genervt scheint der Westen vom pludrigen, piefigen, unverständlichen Osten, der deutschen Provinz. Das darf er. Ich aber danke Klaus Wolfram für die Inspiration zu diesem Text, denn ich würde gern etwas dazu beitragen, dass das nicht so bleibt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.

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