Unter dem Anspruch einer diversitätssensiblen Perspektive löst das just erschienene Spiegel-Magazin unter dem Titel „So isser, der Ossi“ Befremdung aus. Warum geht es nur um die Frage, wie der „Ossi“, nicht aber der „Wessi“ tickt? Sind „Wessis“ in Deutschland die Norm und „Ossis“ „Exoten“?
Und einmal Hand aufs Herz: Hätte sich der Spiegel eine Titelseite „So isser, der Türke“ getraut? Es hätte Kritik gehagelt, so beispielsweise: Es gibt nicht den Türken, sondern viele unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in der Türkei mit unterschiedlichen Standpunkten. Oder: Ein Gros der Mitbürger mit türkischem Hintergrund in Deutschland sind Deutsche und keine Türken. Es stellt sich die berechtigte Frage: Warum gilt diese Sensibilität nicht für alle? Seit einiger Zeit wird die Frage „Wo kommst du her?“ bei Menschen mit Migrationshintergrund vermieden: Denn ob jemand eher dunkelhäutig, hell, blond-, rot- oder schwarzhaarig ist, dies ist kein Indiz für seine oder ihre Nationalität. Warum differenzieren wir knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch zwischen Ost und West und haben keine Scheu zu fragen: Kommst du aus Ostdeutschland? Sind wir mit der Wiedervereinigung nicht alle „Owessis“ oder „Wossis“ geworden?
Wenn es seit der Wiedervereinigung nicht gelungen ist, eine gemeinsame kulturelle Identität zu entwickeln, wäre es jetzt nicht an der Zeit, interkulturelle Ratschläge zu beherzigen, an erster Stelle eine Begegnung auf „Augenhöhe“? Und dies beispielsweise auch kulturgeschichtlich, indem in Dokumentationen, Schulbüchern oder Vorträgen die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Wiedervereinigung nicht ausschließlich aus Westperspektive behandelt wird? Und wenn doch, dann wenigstens mit einem Hinweis, dass dies eine westliche und keine gesamtdeutsche Perspektive ist? Warum ist laut einer CHE-Studie unter den Leitungen der staatlichen Universitäten in Deutschland kein einziger Ostdeutscher oder keine Ostdeutsche vertreten? Mit Blick auf eine Unterrepräsentanz von Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund diskutieren wir über Quoten. Sollte es hier nicht selbstverständlich sein, dass Bevölkerungsgruppen aus Ost und West unter Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern und Multiplikatorinnen und Multiplikatoren angemessen repräsentiert sind?
Es wird zurzeit viel über Postkolonialismus diskutiert. Aber wie sieht es vor der eigenen Haustür aus? Viele Eingriffe der damaligen Treuhand wurden zu Recht moniert. Und wenn wir beispielsweise auf die aktuelle Präsenz von Schlagern, die vor der Wiedervereinigung entstanden sind, in öffentlich-rechtlichen Sendern schauen, da werden z. B. Hits aus den 1970er Jahren nahezu ausschließlich aus Schlagern der BRD zusammengestellt. Schlager aus der DDR finden sich allenfalls im MDR oder RBB wieder.
All dies trägt nicht zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und zur Entwicklung einer gemeinsamen kulturellen Identität bei. Nicht alles aus der DDR war schlecht und nicht alles aus der BRD gut. Aktuell hadern wir aufgrund von Fragen der Nachhaltigkeit mit Teilaspekten der Ökonomisierung, die die BRD stark geprägt hat. Auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf war in der DDR wesentlich besser aufgestellt. Sollte es nicht Ziel einer Wiedervereinigung sein, die Stärken der Einzelparteien zu bündeln und so neue Wege zu beschreiten? Narrative spielen eine wichtige Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Möchten wir den innerdeutschen Zusammenhalt stärken, bedarf es keiner Polarisierung mehr in Ost- und West-Schubladen, sondern neuer Narrative, die die gemeinsame kulturelle Identität betonen.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2019.