Marco Wanderwitz ist seit Februar Ostbeauftragter der Bundesregierung. Ludwig Greven spricht mit dem CDU-Politiker aus Sachsen über mangelndes demokratisches Bewusstsein in der ehemaligen DDR und die Bedrohung durch die AfD.
Ludwig Greven: Herr Wanderwitz, warum braucht es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch einen Beauftragten für die neuen Bundesländer, die so neu ja nicht mehr sind?
Marco Wanderwitz: Vor fünf Jahren hätte ich noch gesagt, wir brauchen den Beauftragten bald nicht mehr. Die Mauer in den Köpfen ist in den vergangenen Jahren aber leider wieder höher geworden.
Woran machen Sie das fest?
Das zeigt sich z. B. an den Wahlergebnissen der AfD. Da gibt es ein dramatisches West-Ost-Gefälle. Im ganzen Land hat sich der Diskurs verändert, Sprache und Umgangsformen sind verroht. Aber im Osten besonders drastisch. Kommunalpolitiker werden reihenweise angegriffen. Die Zivilgesellschaft reagiert in den neuen Ländern viel zu wenig darauf.
In Umfragen sagen viele im Osten, es gehe ihnen gar nicht so schlecht. Dennoch wählen sie die AfD. Wie kann das sein?
Offensichtlich haben sie keine Hemmschwelle, sie zu wählen. Das ist mein Vorwurf an sie. Ich bin da nicht so gnädig wie andere. Die Gründe sind vielfältig. Die wirtschaftliche Transformation nach der Wende, als wir im Osten teilweise 25 Prozent Arbeitslose hatten, hat vor allem die Generation meiner Eltern maximal gestresst. Sie haben sich zum Teil mehrmals neu erfinden müssen.
Es gab keine Sicherheiten. Das hinterlässt bleibende Wunden und Narben. Und als die Menschen dachten, nun sind wir angekommen in den Wohlstandsversprechen der Bundesrepublik, kamen die Flüchtlinge dazu. Manche, die nicht auf einem breiten gefestigten Wohlstand sitzen wie in den alten Bundesländern, ziehen daraus eine Konsequenz, die ich moralisch für höchst fragwürdig halte.
Und die anderen Gründe?
Alle Ostblockländer waren absolut homogen. In der DDR haben nur Deutsche gelebt, von den sowjetischen Soldaten und den Vertragsarbeitern abgesehen, die isoliert waren. Daraus ist, wie etwa auch in Polen und Ungarn, eine gewisse Mentalität entstanden: Wir wollen unter uns bleiben, wir lehnen Fremde ab mit ihren anderen Kulturen, Sprachen und Religionen. Die wollen wir nicht. Besonders stark ist das in den strukturschwachen Gebieten wie in der Lausitz, wo die Beschäftigten in der Braunkohleindustrie um ihre Arbeitsplätze und Zukunft bangen.
Welche Rolle spielt, dass in der DDR die NS-Zeit nie richtig aufgearbeitet wurde?
Auch in der DDR gab es schon eine Neonazi-Szene. In meiner DDR-Schulzeit wurde die deutsche Kriegsschuld vorrangig auf Russland bezogen. Im Vordergrund stand allein, was die Nazis den Kommunisten angetan haben. Die Shoah, die Euthanasie, die Verfolgung von Sinti und Roma, von Homosexuellen und vielen mehr spielte fast keine Rolle. Im Vergleich zum Nationalsozialismus war die DDR eine weichere Diktatur, aber sie war eine. Die Aufarbeitung dieser 40 Jahre ist eine Daueraufgabe, genau wie die der NS-Zeit. Jeder jungen Generation muss man das wieder vermitteln. Im Großen und Ganzen waren wir da nicht so schlecht. Wir sind nur auf eine Leimrute gegangen, nämlich den Fokus zu einseitig auf die Stasi zu legen und nicht auf die SED-Diktatur insgesamt. Deshalb bin ich dafür, den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik weiterzuentwickeln zum Beauftragten für das SED-Unrecht. Nicht die Stasi war die Spinne im Netz, sondern die SED.
Die Ost-CDU und die anderen Blockparteien waren Teil des Systems.
Die waren nur Staffage. Ja, auch bei ihnen haben sich einige schuldig gemacht. Das haben wir als CDU sauber aufgearbeitet. Viele haben aber schlicht versucht, auf kommunaler Ebene oder in anderen eher staatsfernen Bereichen etwas zu bewegen. Wie mein Vater, der einfaches CDU-Mitglied war. Auch einfache SED-Mitglieder will ich nicht in Sippenhaft stecken. Ich mache niemandem einen Vorwurf daraus, dass er kein Bürgerrechtler war. Ich weiß nicht, wie es bei mir ausgegangen wäre, wenn ich nicht erst 14 gewesen wäre, als die Mauer fiel.
Die SED hat den Mittelstand zerschlagen, ein Bildungsbürgertum gab es nicht, weil Arbeiter und Bauern Vorrang vor Akademikern hatten. Ist das, neben der Abwanderung von jungen Leistungsbereiten vor und nach dem Ende der DDR, ein Grund, weshalb sich eine starke Mitte der Gesellschaft, die ein Gemeinwesen zusammenhält, im Osten nicht herausgebildet hat?
Ja. Dazu kam ein starker Braindrain schon in den 1980er Jahren. All das deformiert die Gesellschaft. Es gibt Dörfer, in denen kaum noch junge Menschen sind. Der Kern, der für Zivilität sorgt, ist deutlich kleiner als im Westen. Und die, die da sind, proben nicht gerade oft den Aufstand der Anständigen. Das ist aber nötig! Ich erwarte von der anständigen Mehrheit, von der ich überzeugt bin, dass es sie gibt, mehr Widerstand, mehr Engagement für die Demokratie. Wer will denn irgendwann von einem AfDler regiert werden? Einige träumen sicher davon. Aber eine solche Vorstellung muss doch die Mehrheit stärker mobilisieren. Es steht Spitz auf Knopf! Es geht darum, ob die neuen Länder zu unbedeutenden Randregionen werden, die den Anschluss verlieren, die unattraktiv werden für ausländische Investoren, für Arbeitskräfte und für die alten Bundesländer. Wo keiner mehr hin will, egal aus welchem Land, weil er fürchten muss, am Ortseingang stehen „drei Nazis auf dem Hügel und finden keinen zum Verprügeln“, um es mit Rainald Grebe zu sagen.
Was hat die Politik versäumt?
Das größte Versäumnis nach der Einheit war zu denken, man könne die Menschen zu glühenden Demokraten machen, indem man ihnen die Schönheit des Grundgesetzes eröffnet, ihnen Reisefreiheit und die D-Mark gibt. Das ist zunächst teilweise überdeckt worden. Aber es bricht in Wellen immer wieder hervor. Wir haben einen nicht unerheblichen Teil, der bis heute die Grundmechanismen der parlamentarischen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft nicht verstanden hat. Weil niemand sie ihnen vermittelt hat.
Auch die CDU nicht, die nach der Einheit die meisten Ostländer regiert hat?
Wir müssen an der politischen Bildung noch viel stärker arbeiten. Die Menschen im Osten haben in drei, vier Generationen in zwei aufeinanderfolgenden Diktaturen gelebt. Dazu gehört, dass die SED wie die Nazis die Religion bekämpft hat. Sachsen, meine Heimat, war ein volksfrommes Kernland der Reformation. Jetzt liegt der Anteil an Christen bei 25 Prozent, in manchen Regionen unter zehn Prozent. Es gibt natürlich Menschen, die ein humanistisches Weltbild haben, das aus meiner Sicht dem christlichen durchaus ebenbürtig ist. Aber nicht alle. Die neuen Länder sind ein entchristlichtes Land. Deshalb sage ich meiner evangelischen Kirche immer: Ihr müsst da missionieren! Die Katholiken machen das besser. Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat gesagt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Deshalb brauchen wir die Kirchen und die Religion. Und die humanistische Zivilgesellschaft.
Hätte es nach dem Fall der Mauer einen Crashkurs in Demokratie geben müssen?
Absolut. Damals wären die Leute dazu sehr bereit gewesen. Die meisten hatten eine völlig verzerrte Vorstellung von einer sozialen Marktwirtschaft, in der man auch mal Ellenbogen braucht und in der Leistung in der Regel belohnt wird. Aber man muss sie eben auch erbringen. In der DDR kannte man das so nicht.
Kann man das alles nachholen?
Das ist heute viel schwieriger. Wir müssen alle einschlägigen Programme noch größer ausrollen und neue auflegen, um im Alltag der Menschen mit dem Thema präsent zu sein. Auch Arbeitgeber haben da eine Verantwortung, z. B. in ihrer Belegschaft keine Rechtsradikalen zu dulden.
Wie bringt man Bürger dazu, nicht zu meckern, sondern selbst Verantwortung zu übernehmen? Wir bringt man sie aus der politischen Zuschauerrolle heraus?
Ich werde Gespräche in vielen kleineren Städten und Gemeinden führen. Ich diskutiere nicht mit Rechtsradikalen, auch nicht mit Linksextremisten, nicht mit Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern. Aber der Rest ist mir mit jeder Kritik, mit jeder Idee willkommen, solange sie nicht herumschreien oder pöbeln.
Und wenn das nicht funktioniert?
Dann müssen wir die Leute im wahrsten Sinne des Wortes auch zu Hause aufzusuchen. Ich mache als Abgeordneter in meinem Wahlkreis regelmäßig Hausbesuche, nicht nur im Wahlkampf. Manche sind regelrecht perplex, wenn ein Politiker vor ihrer Haustür steht und ihnen zuhört. Das ist alles aufwendig und mühselig. Aber was bleibt uns übrig? Wir müssen diesen Weg gehen. Die Demokratie ist es wert.
Vielen Dank.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2020.
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