Fatuma Musa Afrah ist Frauen- und Menschenrechtsaktivistin. Die Bundeszentrale für politische Bildung zeichnete sie in diesem Jahr für ihr Engagement als Botschafterin für Demokratie und Toleranz aus. Sie wurde in Somalia geboren, floh mit ihrer Familie vor dem Bürgerkrieg nach Kenia und wuchs dort auf. Sie studierte Sozialarbeit und Entwicklungszusammenarbeit in Mombasa und Nairobi und engagierte sich seit 2012 in internationalen Hilfsprojekten in Mogadischu und im Flüchtlingslager Dadaab.
Im Jahr 2014 kam Fatuma Musa Afrah als „Newcomerin“ (ein Begriff, den sie dem Ausdruck „Flüchtling“ vorzieht) nach Deutschland und ist heute als Gründerin und Geschäftsführerin von United Action Women and Girls e. V. tätig. Der Verein fördert Frauen und Mädchen mit Migrations- und Fluchterfahrung im ländlichen Raum im Land Brandenburg durch Safer-Spaces in Empowerment-Workshops, Bildungsprojekte, Zugang zu Beschäftigung und anderen nützlichen Netzwerken.
Für verschiedene Parteien sowie den Deutschen Bundestag fungierte Fatuma Musa Afrah als Sprecherin und Beraterin zu den Themen, Migration, Frauenrechte und zivilgesellschaftliches Engagement.
Seit 2012 engagieren Sie sich aktiv für andere Menschen und dabei besonders für Kinder, Frauen und Mädchen. In Dadaab, einem der größten Flüchtlingslager der Welt zwischen Kenia und Somalia arbeiteten Sie für internationale Hilfsorganisationen und in Deutschland setzten Sie sich nun für zugewanderte Frauen und Mädchen in Brandenburg ein. Was bedeutet es als Frau im Flüchtlingslager in Kenia oder in Deutschland zu leben? Was können Sie Frauen und Mädchen heute mitgeben?
Generell ist der Aufenthalt in einem Flüchtlingslager sehr problematisch: viele Menschen jeglichen Alters, jeglicher kultureller Hintergründe, mit den unterschiedlichsten Themen und Herausforderungen werden auf engstem Raum zusammengehalten – oft über lange Zeit, in denen sie einer fremden, meist undurchsichtigen Verwaltungsstruktur ausgeliefert sind, mit fremdem Essen, mit geringen finanziellen Mitteln, keiner Handlungs- und Arbeitsmöglichkeit, räumlich isoliert, in der Regel am Stadtrand, in Gewerbegebieten, in Kleinstädten mit schlechtem öffentlichen Nahverkehr und Infrastruktur, mit oftmals fehlendem Zugang zu Sprachkursen, umgeben von einer oftmals indifferenten, schlimmstenfalls rassistischen Mehrheitsbevölkerung. Es ist im Prinzip ein offener Vollzug, eine unerträgliche Wartesituation mit unsicherer Perspektive – eine Begleitung bzgl. psychischer Probleme aufgrund der Flucht- und Camp-Erfahrungen findet selten statt. In kenianischen Camps kommen Korruption, stark diskriminierende Autoritäten und komplette Unsicherheit über die Weiterreise hinzu.
Zu all dem müssen Frauen noch mit der Konfrontation mit patriarchalen und sexistischen Verhaltensweisen rechnen, bis hin zu Belästigungen und Übergriffen, mit einer Isolation aufgrund kultureller Normen und der oftmals alleinigen Verantwortung für die familiäre Care-Arbeit, ohne Rückzugsort oder Safer Space und ohne Beratung.
Frauen und Mädchen der deutschen Mehrheitsgesellschaft sind sich ihrer Rechte zumeist eher bewusst und ich kann den Frauen und Mädchen in meinen Projekten aufgrund meiner Erfahrung in Lagern nur zurufen, dass sie sich darüber im Klaren sein müssen, dass diese Rechte erkämpft wurden, und dass sie immer aufs Neue erkämpft werden müssen.
Sie Sind Gründerin und Vorständin von United Action Women and Girls e.V. Was ist das Ziel des Vereins? Wie hilft Ihnen Ihre eigene Erfahrung als „Newcomerin“ (ein Begriff, den Sie dem Ausdruck „Flüchtling“ vorziehen) bei Ihrer Arbeit?
Ich bevorzuge den Begriff „Newcomerinnen“, weil er positiver und inklusiver klingt. Er macht die Potentiale sichtbar, die diese Frauen mit ihrer Erfahrung und Expertise darstellen.
Das Ziel unseres Vereins ist es, zusammen mit diesen Frauen und Mädchen mit migrantischer Erfahrung im ländlichen Raum eine bessere Welt für alle zu schaffen – durch Empowerment und Bildungsarbeit in Workshops, Exkursionen, Begegnungsveranstaltungen und Weiterbildungsformate, wie wir sie anbieten.
2023 haben wir in Brandenburg die ersten Safer Spaces zur Sensibilisierung bzgl. geschlechtsspezifischer Gewalt mit Frauen, die von FGM/C (weiblicher Genitalverstümmelung) betroffen sind, eingeführt – samt ihren Communities. Ich nenne diese Frauen „Heldinnen“.
Seit 2018 haben wir mehr als 500 Frauen mit unseren Angeboten erreicht. Wir sprechen darüber, dass Frauenrechte Menschenrechte sind, über gegenseitiges Verständnis zwischen Frauen diverser Herkünfte, über Liebe, Sicherheit, Zusammenhalt und Gleichberechtigung. Oft müssen wir erklären, dass sich das Sprechen über die Rechte von Frauen nicht gegen Männer richtet, sondern gegen ein patriarchales System, unter dem Männer oftmals selbst leiden.
2014 habe ich am eigenen Leib erlebt, was diese Frauen durchgemacht haben. Ich war selber in Gemeinschaftsunterkünften, ich habe all das erlebt, was ich oben beschrieben habe, ich kenne ihre Gefühle und ihre Perspektiven. Dadurch bin ich glaubwürdiger und kann leichter Vertrauen zu ihnen aufbauen.
Sie leben und arbeiten in Brandenburg. Welche Herausforderungen begegnen Ihnen und den „Newcomer“-Frauen, mit denen Sie arbeiten in Verbindung mit dem zunehmenden Rechtsruck in Deutschland? Was bewegt Sie dazu weiterhin in Deutschland und speziell in Brandenburg zu bleiben?
Als Frau mit Kopftuch bin ich hier ständig diskriminierendem und ablehnendem Verhalten ausgesetzt. Sei es im ÖPNV, wo mir zumindest mit Ungeduld begegnet wird, wenn ich keine Muttersprachlerin bin, sei es auf dem Amt, wo ich nicht über meine Rechte aufgeklärt werde, von sexuellen Belästigungen oder Übergriffen ganz zu schweigen. Mit zunehmender Rechtstendenz werden die Anfeindungen stärker, unverhohlener und unverschämter.
Wir versuchen die Newcomerinnen in Brandenburg dabei zu unterstützen, grundlegende soziale und kulturelle Bedürfnisse befriedigen zu können und ein wenig Willkommensgefühl zu erfahren, schließlich gehören zu den verletzlichsten Bevölkerungsgruppen.
Meist ist der fehlende Kontakt zu Menschen mit Migrationserfahrung ein wichtiger Grund für Ablehnung, den die rechten Parteien – und leider nicht nur die – dafür nutzen, von den Herausforderungen abzulenken, vor denen wir gesamtgesellschaftlich stehen.
Was mich antreibt ist die Erfahrung, dass wir durch Begegnungsformate wie zum Beispiel mit „Midnimo – kochen verbindet“ schnell eine Annäherung und Öffnung bei den teilnehmenden Mehrheitsdeutschen erleben. Dabei sind wir mit einer mobilen Küche mit einem Elektrotransporter vor Ort und verbinden interkulturelle Begegnung mit Sensibilisierung für regionale und klimafreundliche Ernährung: z.B. Falafel mit Kichererbsen aus Brandenburg.
Die 15 Thesen mit dem Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“ bilden die Arbeitsgrundlage der Initiative kulturelle Integration und stellen den Konsens unserer Mitglieder dar. Was bedeutet für Sie „Zusammenhalt in Vielfalt“ und welche der 15 Thesen halten Sie für besonders wichtig?
„Zusammenhalt in Vielfalt“ heißt für mich nicht nur, dass wir Unterschiede und Konflikte aushalten und überkommen, sondern, dass wir Vielfalt feiern, einen vielfältig blühenden Planeten schaffen: Ökologische Biotope mit großer Vielfalt an Pflanzen sind schöner und resilienter als Monokulturen, die langweilig und anfällig sind.
Ich finde These 9 „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ besonders wichtig. Was Brandenburg betrifft, ist dieser Satz schlicht historisch wahr – wer etwas anderes behauptet, kennt die Geschichte nicht. Außerdem sind wir fast alle Kinder von Migrant*innen: mein enger deutscher Freund aus Magdeburg z.B. hat schwedische Vorfahren. Ein beträchtlicher Teil unserer Arbeit in Begegnungsformaten besteht darin, Teilnehmenden aus der Mehrheitsbevölkerung klarzumachen, dass Migration keine Bedrohung darstellt, sondern eine Chance.
„Typisch deutsch“ finde ich aber auch, dass Frauen hier für ihre Rechte kämpfen (These 4). Das ist oft ein Eye-opener für die Newcomerinnen, mit denen wir arbeiten, weil sie verstehen, dass ihre Benachteiligungen nicht „gottgegeben“, sondern das Ergebnis patriarchaler Strukturen sind, die sich verändern lassen. Als ich herkam, habe ich verstanden, dass die Frauen hier ihre Rechte auch noch nicht lange besitzen und dass heutige Freiheiten von vorherigen Generationen erkämpft wurden.
Vielen Dank!