Die Welt les­bar machen

Lite­ra­tur aus Mit­tel- und Osteuropa

Die lite­ra­ri­sche Land­karte Mit­tel- und Ost­eu­ro­pas wird mit Aus­nahme des Rus­si­schen von „klei­nen“ Spra­chen geprägt: Pol­nisch, Unga­risch, Ukrai­nisch, Geor­gisch, Tsche­chisch, Bela­rus­sisch, Ser­bisch, Kroa­tisch, Estisch, Litau­isch, Let­tisch usw. Die Mehr­spra­chig­keit Euro­pas ist ein kul­tu­rel­ler Wert und die Lite­ra­tu­ren spie­geln, ver­han­deln und ver­mit­teln in beson­de­rer Weise die Gesell­schaf­ten. Die Schrift­stel­ler sind die­je­ni­gen, die die Viel­zahl der Stim­men deut­lich machen und die meh­rere Iden­ti­tä­ten beschrei­ben können.

Mit der Ost­erwei­te­rung der Euro­päi­schen Union ab 2004 kon­zen­trierte sich erst­mals wie­der der Blick auf diese Lite­ra­tu­ren in beson­de­rer Weise. Die unter­schied­li­chen Erfah­run­gen, die Ungleich­zei­tig­keit im euro­päi­schen Ver­ei­ni­gungs­pro­zess soll­ten nicht als frem­der, son­dern als inte­grier­ter Anteil Euro­pas Viel­falt ver­mit­teln. Es kommt Deutsch­land zugute, dass es eine aus­ge­prägte Über­set­zungs­kul­tur hat. In weni­gen Spra­chen wird so viel und aus so vie­len „klei­nen“ Spra­chen über­setzt wie ins Deut­sche. Trotz­dem war es eine große Anstren­gung, die mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Spra­chen mit ihrem wei­ten Spek­trum in der lite­ra­ri­schen Qua­li­tät in der Über­set­zung ver­füg­bar zu machen. Die Inte­gra­tion der Über­set­zer in die Lite­ra­tur­för­de­rung war bereits Anfang der 1990er Jahre ein gro­ßes Thema. Die Migra­ti­ons­ge­sell­schaft hat eben­falls ihren Anteil als Ver­mitt­ler und Anwalt der Viel­falt. Und nicht zuletzt die Ver­lage in Deutsch­land haben erkannt, dass Mit­tel- und Ost­eu­ropa erzäh­le­risch über ein Poten­zial ver­fügt, das trotz der klei­nen Auf­la­gen wegen sei­nes künst­le­ri­schen Selbst­ver­ständ­nis­ses eine Ent­de­ckung ist.

Mit­tel- und ost­eu­ro­päi­sche Spra­chen und Lite­ra­tur spie­len eine iden­ti­täts­stif­tende Rolle, nicht zuletzt des­halb, weil sie immer wie­der aufs Neue ihre Lebens­fä­hig­keit bewei­sen müs­sen. Der ukrai­ni­sche Schrift­stel­ler Juri Andrucho­wytsch hat es so aus­ge­drückt: „Der mit­tel­ost­eu­ro­päi­sche Schrift­stel­ler erzählt seine Geschichte nicht, um des Erzäh­lens der Geschichte, son­dern um der Benut­zung der Spra­che wil­len. Das ist also eine ideale Lite­ra­tur. Sie exis­tiert um der Spra­che wil­len und glaubt, dass die Spra­che um ihret­wil­len exis­tiert“. Diese Lite­ra­tur wird so lange exis­tie­ren, wie es die ein­zel­nen Spra­chen in Mit­tel- und Ost­eu­ropa gibt. Schon 2002 eta­blierte sich ein Lite­ra­tur­preis, der Brü­cke Ber­lin Preis, der sich den zeit­ge­nös­si­schen Lite­ra­tu­ren die­ser Region wid­met. Das Preis­geld geht zu glei­chen Tei­len an Autoren und Über­set­zer. Die erste Preis­ver­lei­hung ging an Olga Tok­ar­c­zuk (Polen) und Esther Kin­sky. Bei den bis­her zehn Ver­lei­hun­gen waren unter ande­rem Polen, Tsche­chien, Ungarn, Ser­bien, Ukraine und Geor­gien ver­tre­ten. Die Aus­zeich­nung für 2022 ging an Radka Dene­mar­ková (Tsche­chien) und Eva Pro­fou­sová. Gerade bei den klei­nen Spra­chen ist die Über­set­zung in andere Spra­chen eine Brü­cke, um ein­an­der bes­ser zu ver­ste­hen, um unser spe­zi­el­les Wis­sen wei­ter­zu­ge­ben und so das euro­päi­sche Wis­sen zu meh­ren. Lite­ra­tur­preise schaf­fen zusätz­li­che Auf­merk­sam­keit. Olga Tok­ar­c­zuk erhielt den Nobel­preis, der ukrai­ni­sche Schrift­stel­ler Ser­hij Zha­dan den Frie­dens­preis des Deut­schen Buch­han­dels, der pol­ni­sche Schrift­stel­ler Szc­ze­pan Twar­doch den Nike Lite­rary Award, der unga­ri­sche Schrift­stel­ler László F. Föl­dé­nyi den Leip­zi­ger Buch­preis zur Euro­päi­schen Ver­stän­di­gung, Juri Andrucho­wytsch den Hein­rich-Heine-Preis, um nur einige Bei­spiele zu nen­nen. Es ist eine rei­che Ernte von Gedankennahrung.

Trotz der span­nen­den Ent­de­ckun­gen, der Inspi­ra­tion der Texte, der unver­wech­sel­ba­ren Selbst­iro­nie oder des manch­mal fremd­ar­ti­gen Pathos ebbte das Inter­esse im Wes­ten wie­der ab. Viel­leicht waren es zu sehr die Erfah­run­gen der Außen­sei­ter, die lite­ra­risch arti­ku­liert wur­den. Aber dann mit den Frei­heits­be­we­gun­gen in Mit­tel- und Ost­eu­ropa, mit dem bru­ta­len Krieg Russ­lands gegen die Ukraine, mit dem zuneh­men­den Natio­na­lis­mus, dem reli­giö­sen Eifer, der Zen­sur und Gleich­schal­tung der Medien und der Ein­schüch­te­rung der Künst­ler tra­fen der Schre­cken des Krie­ges und die Unter­drü­ckung der Frei­heit den Nerv der Literatur.

Es ist der Mut von Autorin­nen und Autoren, der ein kri­ti­sches und fan­ta­sie­vol­les Gespräch ermög­licht, und von Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern, die über Sprach­gren­zen hin­weg eine Annä­he­rung und Ver­stän­di­gung schaf­fen. Ina Hart­wig for­mu­lierte bei der Ver­lei­hung des Frie­dens­prei­ses an Ser­hij Zha­dan ein­dring­lich: „Die Wahr­heit der Lite­ra­tur ist gewiss eine andere als die der Medien. Poe­sie und Prosa sind viel­schich­ti­ger, wider­sprüch­li­cher, mit­un­ter auch her­me­ti­scher. Es ist eine Spra­che der Annä­he­rung und der Ver­stän­di­gung, die in ihrem Suchen, Tas­ten und Abwä­gen die Wahr­heit sucht, die den Huma­nis­mus sucht und manch­mal den eige­nen Abgrund, den Hass, ent­deckt.“ Die Men­schen, die diese Bücher jetzt ent­de­cken, erken­nen mit Bestür­zung, wie viel bereits von den Schrift­stel­lern erkannt wor­den ist und wie wenig ernst genom­men wurde. Aber das ganze Aus­maß an Schre­cken konnte man sich trotz­dem nicht vor­stel­len. Die Viel­zahl der Stim­men hör­bar und les­bar zu machen, den Kul­tur­dia­log durch Über­set­zun­gen zu fes­ti­gen ist eine ent­schei­dende mensch­li­che Erfah­rung unse­res Zusam­men­le­bens. Sind wir nicht selbst Ver­rä­ter der euro­päi­schen Werte, wenn unsere Ant­wort nur Schwei­gen ist? Václav Havel stellte fest: „Gleich­gül­tig­keit den ande­ren gegen­über und Gleich­gül­tig­keit dem Schick­sal gegen­über öff­nen dem Bösen die Tür.“

Die­ser Test ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 02/2023.

Von |2023-03-06T11:43:32+01:00Februar 3rd, 2023|Einwanderungsgesellschaft, Sprache|Kommentare deaktiviert für

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Lite­ra­tur aus Mit­tel- und Osteuropa

Klaus-Dieter Lehmann ist Kulturmittler. Er war Präsident des Goethe-Instituts und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie Generaldirektor der Deutschen Bibliothek.