Klaus-Dieter Lehmann 3. Februar 2023 Logo_Initiative_print.png

Die Welt les­bar machen

Lite­ra­tur aus Mit­tel- und Osteuropa

Die literarische Landkarte Mittel- und Osteuropas wird mit Ausnahme des Russischen von „kleinen“ Sprachen geprägt: Polnisch, Ungarisch, Ukrainisch, Georgisch, Tschechisch, Belarussisch, Serbisch, Kroatisch, Estisch, Litauisch, Lettisch usw. Die Mehrsprachigkeit Europas ist ein kultureller Wert und die Literaturen spiegeln, verhandeln und vermitteln in besonderer Weise die Gesellschaften. Die Schriftsteller sind diejenigen, die die Vielzahl der Stimmen deutlich machen und die mehrere Identitäten beschreiben können.

Mit der Osterweiterung der Europäischen Union ab 2004 konzentrierte sich erstmals wieder der Blick auf diese Literaturen in besonderer Weise. Die unterschiedlichen Erfahrungen, die Ungleichzeitigkeit im europäischen Vereinigungsprozess sollten nicht als fremder, sondern als integrierter Anteil Europas Vielfalt vermitteln. Es kommt Deutschland zugute, dass es eine ausgeprägte Übersetzungskultur hat. In wenigen Sprachen wird so viel und aus so vielen „kleinen“ Sprachen übersetzt wie ins Deutsche. Trotzdem war es eine große Anstrengung, die mittel- und osteuropäischen Sprachen mit ihrem weiten Spektrum in der literarischen Qualität in der Übersetzung verfügbar zu machen. Die Integration der Übersetzer in die Literaturförderung war bereits Anfang der 1990er Jahre ein großes Thema. Die Migrationsgesellschaft hat ebenfalls ihren Anteil als Vermittler und Anwalt der Vielfalt. Und nicht zuletzt die Verlage in Deutschland haben erkannt, dass Mittel- und Osteuropa erzählerisch über ein Potenzial verfügt, das trotz der kleinen Auflagen wegen seines künstlerischen Selbstverständnisses eine Entdeckung ist.

Mittel- und osteuropäische Sprachen und Literatur spielen eine identitätsstiftende Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil sie immer wieder aufs Neue ihre Lebensfähigkeit beweisen müssen. Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch hat es so ausgedrückt: „Der mittelosteuropäische Schriftsteller erzählt seine Geschichte nicht, um des Erzählens der Geschichte, sondern um der Benutzung der Sprache willen. Das ist also eine ideale Literatur. Sie existiert um der Sprache willen und glaubt, dass die Sprache um ihretwillen existiert“. Diese Literatur wird so lange existieren, wie es die einzelnen Sprachen in Mittel- und Osteuropa gibt. Schon 2002 etablierte sich ein Literaturpreis, der Brücke Berlin Preis, der sich den zeitgenössischen Literaturen dieser Region widmet. Das Preisgeld geht zu gleichen Teilen an Autoren und Übersetzer. Die erste Preisverleihung ging an Olga Tokarczuk (Polen) und Esther Kinsky. Bei den bisher zehn Verleihungen waren unter anderem Polen, Tschechien, Ungarn, Serbien, Ukraine und Georgien vertreten. Die Auszeichnung für 2022 ging an Radka Denemarková (Tschechien) und Eva Profousová. Gerade bei den kleinen Sprachen ist die Übersetzung in andere Sprachen eine Brücke, um einander besser zu verstehen, um unser spezielles Wissen weiterzugeben und so das europäische Wissen zu mehren. Literaturpreise schaffen zusätzliche Aufmerksamkeit. Olga Tokarczuk erhielt den Nobelpreis, der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch den Nike Literary Award, der ungarische Schriftsteller László F. Földényi den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, Juri Andruchowytsch den Heinrich-Heine-Preis, um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist eine reiche Ernte von Gedankennahrung.

Trotz der spannenden Entdeckungen, der Inspiration der Texte, der unverwechselbaren Selbstironie oder des manchmal fremdartigen Pathos ebbte das Interesse im Westen wieder ab. Vielleicht waren es zu sehr die Erfahrungen der Außenseiter, die literarisch artikuliert wurden. Aber dann mit den Freiheitsbewegungen in Mittel- und Osteuropa, mit dem brutalen Krieg Russlands gegen die Ukraine, mit dem zunehmenden Nationalismus, dem religiösen Eifer, der Zensur und Gleichschaltung der Medien und der Einschüchterung der Künstler trafen der Schrecken des Krieges und die Unterdrückung der Freiheit den Nerv der Literatur.

Es ist der Mut von Autorinnen und Autoren, der ein kritisches und fantasievolles Gespräch ermöglicht, und von Übersetzerinnen und Übersetzern, die über Sprachgrenzen hinweg eine Annäherung und Verständigung schaffen. Ina Hartwig formulierte bei der Verleihung des Friedenspreises an Serhij Zhadan eindringlich: „Die Wahrheit der Literatur ist gewiss eine andere als die der Medien. Poesie und Prosa sind vielschichtiger, widersprüchlicher, mitunter auch hermetischer. Es ist eine Sprache der Annäherung und der Verständigung, die in ihrem Suchen, Tasten und Abwägen die Wahrheit sucht, die den Humanismus sucht und manchmal den eigenen Abgrund, den Hass, entdeckt.“ Die Menschen, die diese Bücher jetzt entdecken, erkennen mit Bestürzung, wie viel bereits von den Schriftstellern erkannt worden ist und wie wenig ernst genommen wurde. Aber das ganze Ausmaß an Schrecken konnte man sich trotzdem nicht vorstellen. Die Vielzahl der Stimmen hörbar und lesbar zu machen, den Kulturdialog durch Übersetzungen zu festigen ist eine entscheidende menschliche Erfahrung unseres Zusammenlebens. Sind wir nicht selbst Verräter der europäischen Werte, wenn unsere Antwort nur Schweigen ist? Václav Havel stellte fest: „Gleichgültigkeit den anderen gegenüber und Gleichgültigkeit dem Schicksal gegenüber öffnen dem Bösen die Tür.“

Dieser Test ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.

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