Ermun­te­rung zum Genuss

Für eine Bil­dungs­po­li­tik, die Schule auch als Ort der Kul­tur begreift

E s war ein nur klei­ner, unschein­ba­rer Raum im gro­ßen Schul­ge­bäude unse­res Gym­na­si­ums. Dort befand sich eine Biblio­thek, die eine Leh­re­rin ehren­amt­lich lei­tete und jede Woche mehr­mals für alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler öff­nete. Mich selbst zog die­ser Ort ab dem Moment an, als es bei mir „Klick“ machte – als ich end­gül­tig genug davon hatte, schlechte Noten zu schrei­ben. Ich fing an, mir in der Schule Mühe zu geben und auch mit Lust zu lesen. So ent­deckte ich in der Biblio­thek etwa die „Geschich­ten des ver­stor­be­nen Iwan Petro­witsch Bel­kin“ von Alex­an­der Pusch­kin, las, auch um mein Eng­lisch zu ver­bes­sern, die Bücher des bri­tisch-unga­ri­schen Autors George Mikes und stieß auf Bio­gra­fien, wie etwa auf eine, die Albert Ein­steins Leben und Arbeit beschrieb.

Warum ich das schreibe? Weil ich ohne die ehren­amt­li­che Arbeit die­ser Leh­re­rin, der dies viel­leicht gar nicht bewusst war, nicht auf diese Werke gesto­ßen wäre. Diese Bücher spra­chen etwas in mir an, berei­te­ten mir Genuss und mach­ten mich neu­gie­rig auf mehr. Sie eröff­ne­ten mir eine bis dahin noch wenig bekannte Welt und waren auch ein Ansporn, mich selb­stän­dig wei­ter­zu­bil­den. Meine Eltern konn­ten in die­ser Sache wenig für mich tun. Die per­sisch- und tür­kisch­spra­chi­gen Zei­tun­gen und Geschichts­bü­cher, die mein Vater bei­spiels­weise las, waren mir, der in Deutsch­land erst in die Schule gekom­men war, (noch) nicht zugäng­lich. West­li­che Autoren wie Lud­wig Feu­er­bach, Mau­rice Mae­ter­linck oder Ste­fan Zweig, die ich durch mei­nen Vater kannte, erar­bei­tete ich mir Jahre später.

Meine Eltern hat­ten durch den Umzug in die Bun­des­re­pu­blik auch genü­gend damit zu tun, sich ein neues Leben in anfangs frem­der Spra­che und Kul­tur auf­zu­bauen. Es brauchte daher jeman­den, der die deut­sche Spra­che per­fekt beherrschte, die hie­si­gen Ver­hält­nisse kannte und wusste, was man als Eltern und Schü­ler für Rechte hatte. Umso grö­ßer das Glück, einer Frau zu begeg­nen, die eine Freun­din unse­rer Fami­lie wurde und die daran glaubte, dass ich es auf das Gym­na­sium schaf­fen könnte, auch wenn keine Emp­feh­lung vor­lag. Sie setzte sich für mich ein, bis es klappte. Groß war das Glück, sie einige Jahre spä­ter zufäl­lig kurz vor Weih­nach­ten wie­der zu tref­fen. Sie führte mich in einen Laden: Ich durfte mir ein Buch aus­wäh­len. Ein Geschenk genau zum rich­ti­gen Zeitpunkt.

Heute bin ich dank­bar für diese Glücks­mo­mente und schö­nen Zufälle, weiß aber auch, dass sie nicht aus­rei­chen, wenn es darum geht, die Wei­chen für den künf­ti­gen Lebens- und Berufs­weg eines jun­gen Men­schen zu stel­len: Eines Men­schen, der in der Grund­schule ein­fach noch zu jung ist, um her­aus­fin­den zu kön­nen, worin seine Fähig­kei­ten lie­gen und wofür er Inter­esse hat. Hier kommt die Schule ins Spiel, die Kin­der und Jugend­li­che – im bes­ten Fall im Zusam­men­spiel mit dem Eltern­haus – Wis­sen und Werte ver­mit­telt, damit sie befä­higt wer­den, ihre Per­sön­lich­keit zu ent­wi­ckeln, ihren Weg selb­stän­dig zu gehen und einen ihnen pas­sen­den Beruf auszuwählen.

Ist Bil­dung das Mit­tel zur Par­ti­zi­pa­tion in der Gesell­schaft, ist es die Kul­tur nicht min­der. Schu­li­sche Aus­bil­dung, zumin­dest an Gym­na­sien, ist der­art gestal­tet, dass wir, wenn nicht schon im Eltern­haus, hier Kul­tur­tech­ni­ken begeg­nen, die uns die Mög­lich­keit geben, uns aus­zu­pro­bie­ren und krea­tiv zu sein. Darum plä­diere ich für eine Bil­dungs­po­li­tik, die Schule nicht nur als Ort des Ler­nens für das spä­tere Berufs­le­ben begreift, son­dern stär­ker auch als Ort der Kul­tur wahr- und ernst nimmt.

In der zuneh­mend von Diver­si­tät gepräg­ten Gesell­schaft, in der wir leben, sollte Schule zudem auch als Ort des Zusam­men­le­bens und -ler­nens von Men­schen unter­schied­li­cher sozia­ler Her­kunft begrif­fen wer­den. Kul­tur kann hier eine bedeu­tende (Vermittler-)Funktion über­neh­men. Neben Sprach- und Lite­ra­tur­un­ter­richt soll­ten dafür Fächer wie Bil­dende Kunst und Tex­ti­les Wer­ken, Dar­stel­len­des Spiel und Musik gestärkt und erwei­tert wer­den. So kön­nen Kin­der und Jugend­li­che auch aus „bil­dungs­fer­nen“ Schich­ten Kunst und Kul­tur schät­zen ler­nen – und das in zwei­fa­cher Hin­sicht: Kul­tur steht nicht eini­gen offen, son­dern ist für alle Men­schen da. Und man erfährt, dass man selbst auch krea­tiv sein und ler­nen kann, sich durch Schrei­ben, Malen oder Musi­zie­ren zu arti­ku­lie­ren und sich mit per­sön­li­chen und gesell­schaft­li­chen The­men zu befassen.

Wol­len wir, dass Schu­len dau­er­haft eine Bil­dungs- und Kul­tur­stätte blei­ben, brau­chen wir aber das, was die anti­ken Grie­chen „met­a­noia“ genannt haben: Eine Umkehr des Den­kens, d. h., viel mehr Geld für Schule und Bil­dung. Wir brau­chen drin­gend mehr Lehr­kräfte und Schul­so­zi­al­ar­bei­te­rin­nen und -arbei­ter, die Lei­den­schaft ein­brin­gen kön­nen und weni­ger Büro­kra­tie bezwin­gen müs­sen. Wir brau­chen klei­nere Klas­sen, damit alle gese­hen wer­den und nie­mand hin­ten her­un­ter­fällt. Und am Ende brau­chen wir vor allem: viel Zeit, damit Schü­le­rin­nen und Schü­ler sich aus­pro­bie­ren können.

Meine Schule hatte das große Glück, gleich meh­rere sol­cher enga­gier­ten Leh­re­rin­nen und Leh­rer zu haben: Der erste, aus einer deutsch-indi­schen Fami­lie, lei­tete Orches­ter und Chor. Der zweite, ohne Migra­ti­ons­ge­schichte, lehrte uns das Ent­wi­ckeln von Foto­ne­ga­ti­ven in der Dun­kel­kam­mer sowie das Dre­hen und Schnei­den von Videos. Der dritte, ein US-Ame­ri­ka­ner, brachte alle paar Jahre mit Schü­le­rin­nen und Schü­lern ein Musi­cal auf die Beine, das stets gro­ßen Erfolg hatte. Der Ein­satz die­ser Leh­rer trug Früchte: Einige Absol­ven­ten gin­gen spä­ter in den Kul­tur­be­reich, wur­den bei­spiels­weise Musi­cal­sän­ger und Kom­po­nis­tin­nen, Schau­spie­le­rin­nen und Radiomoderatoren.

Die Corona-Pan­de­mie ist in vie­ler­lei Hin­sicht eine Her­aus­for­de­rung, aber auch eine Chance – für eine Zäsur in der Bil­dungs­po­li­tik. Wenn die Bun­des­re­gie­rung Steu­er­gel­der als Mil­li­ar­den­hil­fen für bör­sen­no­tierte Unter­neh­men wie TUI zur Ver­fü­gung stellt, kann es kein gutes Argu­ment geben, warum sol­che Hil­fen nicht auch in Schu­len flie­ßen sol­len, um Kin­dern und Jugend­li­chen eine gute, gerechte und zukunfts­ge­wandte Aus­bil­dung – auch in kul­tu­rel­ler Hin­sicht – ange­dei­hen zu lassen.

Die hier erho­bene For­de­rung steht übri­gens nicht für sich allein. Denn schon seit über zehn Jah­ren for­dern der Deut­sche Kul­tur­rat und zahl­rei­che andere zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen mehr kul­tu­relle Bil­dung in den Schu­len. Die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen soll­ten sich der Sache noch stär­ker anneh­men – nicht zuletzt, weil die Pan­de­mie uns die sozia­len Pro­bleme wie unter einem Brenn­glas vor Augen geführt hat. Alle Kin­der und Jugend­li­chen, unab­hän­gig von ihrer fami­liä­ren und finan­zi­el­len Situa­tion, haben ein Anrecht auf kul­tu­relle Bil­dung. Denn sie ist, so heißt es bereits 2009 in einer Stel­lung­nahme des Deut­schen Kul­tur­ra­tes, „eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung für das Zusam­men­le­ben in unse­rer Gesell­schaft sowie für eine gelin­gende Teil­habe an den For­men und Inhal­ten von Kunst und Kultur“.

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 02/2021.

Von |2021-02-05T15:15:36+01:00Februar 5th, 2021|Einwanderungsgesellschaft, Sprache|Kommentare deaktiviert für

Ermun­te­rung zum Genuss

Für eine Bil­dungs­po­li­tik, die Schule auch als Ort der Kul­tur begreift

Behrang Samsami, geboren in Iranisch-Aserbaidschan, ist freier Journalist.