Behrang Samsami 5. Februar 2021 Logo_Initiative_print.png

Ermun­te­rung zum Genuss

Für eine Bil­dungs­po­li­tik, die Schule auch als Ort der Kul­tur begreift

E s war ein nur kleiner, unscheinbarer Raum im großen Schulgebäude unseres Gymnasiums. Dort befand sich eine Bibliothek, die eine Lehrerin ehrenamtlich leitete und jede Woche mehrmals für alle Schülerinnen und Schüler öffnete. Mich selbst zog dieser Ort ab dem Moment an, als es bei mir „Klick“ machte – als ich endgültig genug davon hatte, schlechte Noten zu schreiben. Ich fing an, mir in der Schule Mühe zu geben und auch mit Lust zu lesen. So entdeckte ich in der Bibliothek etwa die „Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin“ von Alexander Puschkin, las, auch um mein Englisch zu verbessern, die Bücher des britisch-ungarischen Autors George Mikes und stieß auf Biografien, wie etwa auf eine, die Albert Einsteins Leben und Arbeit beschrieb.

Warum ich das schreibe? Weil ich ohne die ehrenamtliche Arbeit dieser Lehrerin, der dies vielleicht gar nicht bewusst war, nicht auf diese Werke gestoßen wäre. Diese Bücher sprachen etwas in mir an, bereiteten mir Genuss und machten mich neugierig auf mehr. Sie eröffneten mir eine bis dahin noch wenig bekannte Welt und waren auch ein Ansporn, mich selbständig weiterzubilden. Meine Eltern konnten in dieser Sache wenig für mich tun. Die persisch- und türkischsprachigen Zeitungen und Geschichtsbücher, die mein Vater beispielsweise las, waren mir, der in Deutschland erst in die Schule gekommen war, (noch) nicht zugänglich. Westliche Autoren wie Ludwig Feuerbach, Maurice Maeterlinck oder Stefan Zweig, die ich durch meinen Vater kannte, erarbeitete ich mir Jahre später.

Meine Eltern hatten durch den Umzug in die Bundesrepublik auch genügend damit zu tun, sich ein neues Leben in anfangs fremder Sprache und Kultur aufzubauen. Es brauchte daher jemanden, der die deutsche Sprache perfekt beherrschte, die hiesigen Verhältnisse kannte und wusste, was man als Eltern und Schüler für Rechte hatte. Umso größer das Glück, einer Frau zu begegnen, die eine Freundin unserer Familie wurde und die daran glaubte, dass ich es auf das Gymnasium schaffen könnte, auch wenn keine Empfehlung vorlag. Sie setzte sich für mich ein, bis es klappte. Groß war das Glück, sie einige Jahre später zufällig kurz vor Weihnachten wieder zu treffen. Sie führte mich in einen Laden: Ich durfte mir ein Buch auswählen. Ein Geschenk genau zum richtigen Zeitpunkt.

Heute bin ich dankbar für diese Glücksmomente und schönen Zufälle, weiß aber auch, dass sie nicht ausreichen, wenn es darum geht, die Weichen für den künftigen Lebens- und Berufsweg eines jungen Menschen zu stellen: Eines Menschen, der in der Grundschule einfach noch zu jung ist, um herausfinden zu können, worin seine Fähigkeiten liegen und wofür er Interesse hat. Hier kommt die Schule ins Spiel, die Kinder und Jugendliche – im besten Fall im Zusammenspiel mit dem Elternhaus – Wissen und Werte vermittelt, damit sie befähigt werden, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, ihren Weg selbständig zu gehen und einen ihnen passenden Beruf auszuwählen.

Ist Bildung das Mittel zur Partizipation in der Gesellschaft, ist es die Kultur nicht minder. Schulische Ausbildung, zumindest an Gymnasien, ist derart gestaltet, dass wir, wenn nicht schon im Elternhaus, hier Kulturtechniken begegnen, die uns die Möglichkeit geben, uns auszuprobieren und kreativ zu sein. Darum plädiere ich für eine Bildungspolitik, die Schule nicht nur als Ort des Lernens für das spätere Berufsleben begreift, sondern stärker auch als Ort der Kultur wahr- und ernst nimmt.

In der zunehmend von Diversität geprägten Gesellschaft, in der wir leben, sollte Schule zudem auch als Ort des Zusammenlebens und -lernens von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft begriffen werden. Kultur kann hier eine bedeutende (Vermittler-)Funktion übernehmen. Neben Sprach- und Literaturunterricht sollten dafür Fächer wie Bildende Kunst und Textiles Werken, Darstellendes Spiel und Musik gestärkt und erweitert werden. So können Kinder und Jugendliche auch aus „bildungsfernen“ Schichten Kunst und Kultur schätzen lernen – und das in zweifacher Hinsicht: Kultur steht nicht einigen offen, sondern ist für alle Menschen da. Und man erfährt, dass man selbst auch kreativ sein und lernen kann, sich durch Schreiben, Malen oder Musizieren zu artikulieren und sich mit persönlichen und gesellschaftlichen Themen zu befassen.

Wollen wir, dass Schulen dauerhaft eine Bildungs- und Kulturstätte bleiben, brauchen wir aber das, was die antiken Griechen „metanoia“ genannt haben: Eine Umkehr des Denkens, d. h., viel mehr Geld für Schule und Bildung. Wir brauchen dringend mehr Lehrkräfte und Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter, die Leidenschaft einbringen können und weniger Bürokratie bezwingen müssen. Wir brauchen kleinere Klassen, damit alle gesehen werden und niemand hinten herunterfällt. Und am Ende brauchen wir vor allem: viel Zeit, damit Schülerinnen und Schüler sich ausprobieren können.

Meine Schule hatte das große Glück, gleich mehrere solcher engagierten Lehrerinnen und Lehrer zu haben: Der erste, aus einer deutsch-indischen Familie, leitete Orchester und Chor. Der zweite, ohne Migrationsgeschichte, lehrte uns das Entwickeln von Fotonegativen in der Dunkelkammer sowie das Drehen und Schneiden von Videos. Der dritte, ein US-Amerikaner, brachte alle paar Jahre mit Schülerinnen und Schülern ein Musical auf die Beine, das stets großen Erfolg hatte. Der Einsatz dieser Lehrer trug Früchte: Einige Absolventen gingen später in den Kulturbereich, wurden beispielsweise Musicalsänger und Komponistinnen, Schauspielerinnen und Radiomoderatoren.

Die Corona-Pandemie ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung, aber auch eine Chance – für eine Zäsur in der Bildungspolitik. Wenn die Bundesregierung Steuergelder als Milliardenhilfen für börsennotierte Unternehmen wie TUI zur Verfügung stellt, kann es kein gutes Argument geben, warum solche Hilfen nicht auch in Schulen fließen sollen, um Kindern und Jugendlichen eine gute, gerechte und zukunftsgewandte Ausbildung – auch in kultureller Hinsicht – angedeihen zu lassen.

Die hier erhobene Forderung steht übrigens nicht für sich allein. Denn schon seit über zehn Jahren fordern der Deutsche Kulturrat und zahlreiche andere zivilgesellschaftliche Organisationen mehr kulturelle Bildung in den Schulen. Die politisch Verantwortlichen sollten sich der Sache noch stärker annehmen – nicht zuletzt, weil die Pandemie uns die sozialen Probleme wie unter einem Brennglas vor Augen geführt hat. Alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihrer familiären und finanziellen Situation, haben ein Anrecht auf kulturelle Bildung. Denn sie ist, so heißt es bereits 2009 in einer Stellungnahme des Deutschen Kulturrates, „eine wesentliche Voraussetzung für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft sowie für eine gelingende Teilhabe an den Formen und Inhalten von Kunst und Kultur“.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2021.

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