Ach, Thüringen. Wie heißt es noch im Kinderreim: „In Ilmenau, da ist der Himmel blau, da tanzt der Ziegenbock mit seiner Frau.“ Man findet diese Verse auf dem Steinsockel des Ziegenbrunnens der kleinen Universitätsstadt im Thüringer Wald und der steht sinnigerweise in der Straße des Friedens. Der Himmel dort ist tatsächlich von einem besonderen Blau, und die Stadtmeteorologen haben dafür auch eine Erklärung parat. Über dem berühmten Kickelhahn sollen sich bei bestimmten Wetterlagen die Wolken auflösen und den Blick in den Himmel freigeben. Was für ein sanftes Land, indem man sich ernsthaft nur über die wahre Form der Klöße streiten kann, die im Süden Hütes heißen. Wie oft bin ich auf Goethes Wanderwegen gegangen, habe mir im Goethehaus in Stützerbach zum Schutz der Biedermeierdielen die Filzpantoffeln über die Straßenschuhe gezogen; und ein paar Orte weiter verfällt der Bauernhof der Familie ganz leise vor sich hin.
Ach, Thüringen. Warum von dort wieder die jüngsten Erschütterungen der deutschen Politik ausgehen, der Tabubruch, wie man die Ereignisse um die Ministerpräsidentenwahl zurecht nennt; warum dieses Land plötzlich nicht mehr als das grüne Herz erscheint, sondern als eines der Finsternis, das geht mir schwer in den Kopf. Es ist, als hätte man eine ganze Region in Sepiafarbe getaucht, jenem Verfahren, mit dem man neue Bilder auf alt färben kann. Und schon sieht man überall die Gespenster der Vergangenheit aufziehen, glaubt die Marschkolonnen wieder zu hören und fühlt sich in eine andere, eine schreckliche Zeit versetzt.
Ständig werden wir erinnert und müssen das wohl. Die Jahrestage verfolgen uns, und die mörderischen Ereignisse auch. Ein Land blickt beklommen zurück. Kommen die Zwanziger Jahre tatsächlich wieder oder betrachten wir sie heute nur wie eine Kinorevue. Berlin als Babylon. Und Weimar als Chiffre für Aufbruch und Untergang zugleich.
Wer heute durch Weimar geht, mag das alles nicht glauben; der erlebt eine herausgeputzte Kleinstadt, die sich in ihrer Bedeutungslosigkeit räkelt und bei der Nennung von Goethe immer noch leicht auf Zehenspitzen geht; wo sich westdeutsche Rentner niederlassen und die meistens Kulturbringer von draußen erwartungsgemäß scheitern. Jetzt erhebt sich gerade die Klassikstiftung wieder mit der alten Weimarer Idee, die Politik durch die Kultur retten zu wollen. Distinktionsabbau nennt man das heute und meint doch die Hoffnung, mit den Heilkräften der Kultur einer erkrankten Gesellschaft zu Leibe rücken zu können. Aber was hat das alles mit den Vorgängen im Thüringer Landtag zu tun, wo sich gerade eine Provinzposse abspielt, die freilich das Zeug hat, die Republik zu beschädigen?
Natürlich gibt es die suggestive Kraft der Vergleiche; natürlich muss man sich fragen, warum einem rechtsradikalen Demagogen wie Björn Höcke ein solcher Abstimmungscoup ausgerechnet in Thüringen gelang, wo die Nazis vor 90 Jahren tatsächlich zum ersten Mal die Hand nach der exekutiven Gewalt ausstreckten. Gibt es womöglich doch so etwas wie eine historische Prädisposition, einen gesellschaftlichen Nährboden, den berühmten Genius Loci der hässlichen Art?
Manche Erkenntnisse der Wahlforscher legen das sogar nahe. Die Wahlkarten von damals und heute erscheinen für manche Regionen fast kongruent. Doch man gerät schnell in die Versuchung, zu stereotypen Erklärungsmustern zu greifen, die wir eigentlich nicht mehr heranziehen wollten für die Beschreibung von Menschen. Die Feinde der Demokratie stammen heute – das machen die Taten von Hanau deutlich – nicht mehr nur aus einem bestimmten Milieu. Sie sind auf eine erschreckende Weise ubiquitär geworden.
Vielleicht ist Thüringen auch nur das Beispiel für ein Land, dem die Kraft zur Selbsterklärung lange Zeit fehlte und das in seiner Geschichte immer wieder zur Projektionsfläche wurde für alle möglichen Erwartungen und Missdeutungen von außen; von Fremdzuschreibungen und mittlerweile sogar einem Grundsatzverdacht. Thüringen hat sich darüber in eine imaginäre Landschaft verwandelt, die auch in Vorstellungswelten existierte und nicht nur in der schlichten Realität. Das haben sich selbst heute noch die Werbetexter zunutze gemacht, die der eher belanglosen Gegend um die alte Strumpfwirkerstadt Apolda den Titel einer Toskana des Ostens verpassten. „Our world is Auerstedt“, hieß das, und es war vermutlich fast ernst gemeint.
Als „Morgen des Glücks“ hat der greise Wilhelm von Humboldt dieses Thüringen noch in seinen Alterssonetten beschrieben; und wenn es die blaue Blume je gäbe, dann hätten die Romantiker sie wohl in Thüringen gefunden. Es war schon ein eigenartiger Vorgang, dass sich die Gründerväter der ersten deutschen Republik aus dem von Revolutionswirren geschüttelten Berlin in die Thüringische Provinz begaben, um sich dort den humanistischen Geist von Weimar abzuholen und den Segen der Klassik dazu. Geholfen hat es ihnen freilich nicht.
Denn auch die Feinde der Republik saßen in Weimar, haben sich dort munitioniert und versucht, ihren Ungeist gegen Berlin und eine als dekadent verunglimpfte Moderne in Stellung zu bringen. Dass Thüringen zu jener Zeit ein Laboratorium dieser Moderne war und sie in all ihrer Janusköpfigkeit gerade aus der Provinz kam, ist einem Beobachter wie Harry Graf Kessler früh aufgefallen. In Weimar ließ sich das Gären der deutschen Gesellschaft in vivo betrachten. Aber gelebt hat auch er in dieser Stadt nie wirklich. Das Ende kennen wir alle. Zwei Diktaturen senkten sich über das Land und am Ende war Thüringen fast von der mentalen Landkarte verschwunden.
Ich kann mich noch gut an eine Begegnung wenige Monate nach dem Mauerfall in der Bezirksverwaltungsbehörde von Erfurt erinnern, als die dortige Protokollchefin vor einer Wandkarte stand und um die drei Bezirke Erfurt, Gera und Suhl mit dem Bleistift eine Linie zog. Das, sagte sie mit feierlicher Stimme, könne einmal wieder zu Thüringen werden.
Es ist ein Musterland der deutschen Einheit daraus geworden, und wenn das Wort von den blühenden Landschaften eine Berechtigung hat, dann gilt das für weite Teile von Thüringen. Es ist eine deshalb nicht leicht zu beantwortende Frage, warum die Entfremdung vom Westen mitunter dort am stärksten empfunden wird, wo die Angleichung der Lebensverhältnisse am weitesten fortgeschritten ist. Thüringen ist kein abgehängtes Hinterland. Thüringen lag auch nie im Osten, obwohl viele so reden. In diesen Tagen sind mir Ricarda Huchs „Lebensbilder deutscher Städte“ wieder in die Hände gefallen. Da wird die geografische Wahrnehmung noch einmal deutlich, wie sie vor Krieg, Verbrechen und Teilung bestand. Nicht Ost und West bestimmte den Blick auf die Verhältnisse, der Unterschied hieß eher Nord oder Süd. Erfurt gehörte genauso zur Mitte wie Aachen, Köln oder Frankfurt am Main.
Der Osten, wie wir ihn heute kennen, ist ein Ergebnis der Teilung und des jahrzehntelangen Vergessens. Dass er in all den Jahren seit dem Mauerfall nicht wieder verschwunden ist, gehört zu den Rätseln der Einheit. Ja, man muss leider eingestehen, dass sich die Zuordnung zum Osten gerade wieder mit Leben erfüllt. Von der Erfindung der Ostdeutschen ist die Rede und diese westliche Etikettierung verwandelt sich in einen trotzigen Eigenbegriff. Es sind vor allem die Erfahrungen der Nachwendejahre, aus denen sich die heutige Misere erklärt. Der Rückgriff auf ein immer noch gefährlich vagabundierendes ideologisches Erbe reicht da nicht aus.
Schieben wir die historischen Vorhänge einmal beiseite, dann erscheint die Thüringer Regierungskrise eben nicht zuvörderst als ein Problem der Vergangenheit. Dann werden die aktuellen politischen Umstände sichtbar und die Fehler des handelnden Personals. Vielleicht ist das Preis dafür, dass die politischen Überväter von einst wie Kurt Biedenkopf in Sachsen, Bernhard Vogel in Thüringen, aber auch Manfred Stolpe in Brandenburg eine politische Normalität vorgaben, die der gesellschaftlichen Wirklichkeit nie ganz entsprach. Aber wie sollte es auch anders sein, nach dem existenziellen Umbruch von 1989 und den Jahrzehnten der Prägung davor. Dass die neuen Ländern sich mit vielen anderen postkommunistischen Staaten des Ostens diese Erfahrung teilten und sich darin womöglich näher stehen als dem Westen, ist lange nicht aufgefallen, macht aber begreiflich, warum ein freiheitliches bürgerliches Selbstverständnis erst wieder wachsen musste.
Was die Ereignisse in Thüringen dagegen deutlich machen, ist die Verletzlichkeit der parlamentarischen Demokratie, wenn ihr keine wache Zivilgesellschaft zur Seite stünde. Der Konstanzer Verfassungsrechtler Christoph Schönberger sprach von der burlesken Weise, wie die Vorgänge in Erfurt die „verfassungsrechtlichen Stabilitätsmythen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte“ dementiert hätten, wobei das Wort burlesk in diesem Zusammenhang kaum angemessen erscheint. Tatsächlich zeigt die öffentliche Reaktion auf Thüringen aber, dass das gesellschaftliche Korrektiv funktioniert. Wenn überhaupt, dann war es der öffentliche Druck, der das schnelle Einlenken erzwang.
Das kann trotzdem nicht frohgemut stimmen. Denn wenn man einmal alle grundsätzlichen Fragen für einen kurzen Moment beiseitelegt, wird auch der Wahrnehmungs- und Ansehensverlust von Politikern sichtbar, die das taktische Kalkül inzwischen zur wichtigsten Richtschnur ihres Handels machen. Ein glückloser, mit allen Tricks um sein politisches Überleben kämpfender Oppositionsführer ist da nicht besser, als so mancher Regierungsvertreter, der partout nicht einsehen wollte, dass auch er die Wahl verloren hat.
Auch wenn man sich sträubt, es so dramatisch zu sagen: Aber unsere Demokratie befindet sich in einem riskanten Stresstest und ob die repräsentativen Formen der politischen Willensbildung das überleben können, ist keine akademische Frage mehr. Sie hängt, wie könnte es in einer freiheitlichen Gesellschaft anders sein, ganz entscheidend vom Verhalten derer ab, die ein öffentliches Amt bekleiden. Sie müssen sich bewusst sein, was ihr Amt erfordert und was der Unterschied ist zwischen diesem Amt und der eigenen Person.
In Thüringen ist mehr ins Rutschen geraten als nur die Mehrheitsbildung im Parlament. Dort geht es um demokratische Spielregeln. Dort geht es um politischen Anstand und um persönliche Integrität. Und dort geht es darum, eine gemeinsame Sprache wieder zu finden. Die linke und die bürgerliche Seite des demokratischen Spektrums, hat ein kluger Kommentator jetzt bemerkt, leiste sich einen Bruderzwist, „der von der Unversöhnlichkeit über die Sprachlosigkeit schließlich in die Zersplitterung“ führe. Ach, Thüringen! – möchte man rufen. Passt auf, was ihr dort tut.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2020.