Das Ende des gesell­schaft­li­chen Diskurses

Die Ver­stän­di­gung in der Gesell­schaft klappt immer weniger

Ohne Kom­mu­ni­ka­tion, ohne gemein­same Spra­che geht es nicht. Beim Turm­bau zu Babel rede­ten sie in tau­send Zun­gen, heißt es in der Bibel. Aber sie ver­stan­den sich nicht. So viel Rede- und Gedan­ken­viel­falt wie in unse­rem geeint-zer­strit­te­nen Land war nie. Jeder kann sagen, was, wie und wo er oder sie will. Er kann heute das eine behaup­ten und mor­gen das Gegen­teil. Die einen ver­teu­feln und andere lob­prei­sen, oder umge­kehrt. Das laute Geschnat­ter von der angeb­li­chen Beschnei­dung der Mei­nungs­frei­heit in TV-Talk­shows, Zei­tun­gen und im Netz bestä­tigt das nur. Wenn die freie Aus­spra­che tat­säch­lich unter­drückt würde wie in Dik­ta­tu­ren und auto­kra­ti­schen Regi­men, wäre davon keine Rede. Allen­falls hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand. Wie in Deutsch­land mehr­fach gehabt.

Und doch hat sich etwas ver­än­dert, was man­che empört und andere wie mich erschreckt. Es ist das wirk­li­che, gefähr­li­che Pro­blem: die Sprach­lo­sig­keit, das gegen­sei­tige Unver­ständ­nis einer offe­nen, viel­far­bi­gen Gesell­schaft, das sie ent­lang ver­schie­de­ner Bruch­li­nien zer­teilt: Ost/West, Stadt/Land, alt/jung, arm/reich, rechts/links. Trotz unauf­hör­li­chen Geplap­pers auf allen Kanä­len gelingt das Gespräch zwi­schen den unter­schied­li­chen Grup­pen, der Dis­kurs, nur noch sel­ten. Selbst die Ver­stän­di­gung dar­über, was der Fall ist, wie es der Phi­lo­soph Lud­wig Witt­gen­stein nannte. Weil alle auf ihrer Sicht behar­ren. Das neue Baby­lon: Leben wir in der bes­ten aller Wel­ten oder kurz vor der Apo­ka­lypse? Ist alles schwarz-weiß oder bunt? Ist Blau das neue Braun oder alles links­grün ver­sifft? Ist Blau über­haupt noch Blau, Grün Grün? Wer will das noch mit Bestimmt­heit sagen?

Ein Gra­fi­ker einer Zei­tung, für die ich mal gear­bei­tet habe, sagte mir zu mei­ner Über­ra­schung, er sei wie viele sei­ner Kol­le­gen far­ben­blind. Aber er habe gelernt, wel­cher Grau­wert, den seine Augen wahr­näh­men, nach all­ge­mei­nem Ver­ständ­nis für wel­che Farbe stehe. Wobei ohne­hin jeder Far­ben anders wahr­nimmt. Ich z. B. habe eine leichte Rot-Grün-Schwä­che. Behin­dert mich das? Allen­falls bei der Klei­dungs­zu­sam­men­stel­lung. Und das auch nur in den Augen der Betrach­ter. Denn ich weiß ja nicht, kann es gar nicht wis­sen, was andere sehen und wie sie es defi­nie­ren. Ich habe ledig­lich gelernt, die Licht­bre­chun­gen mit bestimm­ten Farb­be­grif­fen zu bele­gen, die meine Eltern und Leh­rer mir vorgaben.

Die Welt zu begrei­fen heißt, sie unter­schied­lich zu sehen. Als Kin­der spiel­ten wir unbe­fan­gen „Wer hat Angst vorm schwar­zen Mann?“ und nann­ten Men­schen mit dunk­ler Haut­farbe, denen wir so gut wie nie begeg­ne­ten, beim N-Wort. Heute ist das N-Wort zum Glück tabu, ebenso für viele das S-Wort. Und wie ich als Her­an­wach­sen­der haben die Aller­meis­ten wohl längst ver­stan­den, dass es zwi­schen Men­schen ver­schie­de­ner Haut­far­ben, Her­kunft, Prä­gung, Kul­tur, Reli­gion, Geschlecht, sexu­el­ler Ori­en­tie­rung und dar­aus fol­gen­den Welt­an­schau­un­gen zwar Unter­schiede gibt – sonst wäre das Leben ja auch lang­wei­lig. Aber keine des Menschseins.

Eine gesell­schaft­li­che Ver­stän­di­gung gelingt nur, wenn ich den ande­ren, auch den Frem­den, erst ein­mal respek­tiere, also wahr- und ernst nehme – auch seine Sicht auf die Welt und das Leben. Ich muss sie ja nicht tei­len, nicht ein­mal akzep­tie­ren. Aber was gibt mir das Recht, mit Abso­lut­heit zu sagen, dass er oder sie falsch­liegt und ich rich­tig? Haben sich die Ansich­ten dar­über nicht über die Jahr­hun­derte und Jahr­tau­sende bestän­dig gewandelt?

Vor eini­ger Zeit sah ich zufäl­lig auf You­Tube ein Video, in dem ein Mann in einem nach­ge­mach­ten TV-Stu­dio ganz ernst­haft erklärte, dass die Erde eine Scheibe sei – mit moderns­ten Gra­fi­ken und Com­pu­ter-Ani­ma­tion. Tau­sende hat­ten es sich ange­se­hen und „geliked“. Man kann dar­über lachen oder ins Grü­beln kom­men. Ist der Fort­schritt wirk­lich unauf­halt­sam? Und sei es der Fort­schritt des Den­kens, der Ima­gi­na­tion? Ich bin mir da nicht mehr so sicher.

Ein Fort­schritt wäre es schon zu beher­zi­gen, was Paar­the­ra­peu­ten leh­ren. Dass näm­lich in einer Bezie­hung, ebenso in einer Gemein­schaft, jeder recht haben kann – aus sei­ner Sicht. Es gibt in Wahr­heit keine Bipo­la­ri­tät wie in der Welt des Digi­ta­len: Strom an, Strom aus. Es exis­tie­ren immer ver­schie­dene „Wahr­hei­ten“, selbst in der Wis­sen­schaft und im Glau­ben. Jeder hat seine eigene, geformt durch Erzie­hung, Lebens­um­stände, Lebens­er­fah­run­gen. Nie­mand kann bean­spru­chen, dass seine die allein selig­ma­chende ist. Wenn viele das ertrü­gen, wäre viel gewon­nen. Eine diverse Gesell­schaft lebt nicht von Uni­for­mi­tät. Im Gegen­teil. Die, die frü­her inkon­form gewe­sen wären, möch­ten aber heute viel­fach bestim­men, was zu sein hat. Die­je­ni­gen, die frü­her das Sagen gehabt hät­ten, spie­len sich jetzt als die Nicht-Kon­for­men auf. Beide Sei­ten behaup­ten, nicht nur für die Mehr­heit zu spre­chen, son­dern die Mehr­heit zu sein.

Doch erst ein­mal spricht jeder nur für sich. Schwarz ist manch­mal Weiß. Und Weiß manch­mal Schwarz. Es kommt immer auf den Stand­punkt und die Sicht­weise an.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2019-01/2020.

Von |2019-12-20T12:07:55+01:00Dezember 20th, 2019|Meinungsfreiheit|Kommentare deaktiviert für

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Die Ver­stän­di­gung in der Gesell­schaft klappt immer weniger

Ludwig Greven ist freier Journalist und Autor. Von ihm stammt das Buch "Die Skandal-Republik. Eine Gesellschaft in Dauererregung" (2015).