In bes­ter Verfassung?

Deut­sche Ein­heit und Verfassungskultur

Im 30. Jahr des Mau­er­falls sollte bei aller Freude an der Kraft der fried­li­chen Revo­lu­tion auch ein kri­tisch-kon­struk­ti­ver Blick auf die demo­kra­ti­schen Grund­fes­ten der Repu­blik gelenkt wer­den. Dazu gehört die Frage nach einer deut­schen Ver­fas­sung, deren Feh­len man durch­aus als Zei­chen einer unvoll­ende­ten oder zumin­dest asym­me­tri­schen Ein­heit inter­pre­tie­ren kann. Mit dem Bei­tritt der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik zum Gel­tungs­be­reich des Grund­ge­set­zes, das gemäß Art. 146 GG inte­ri­mis­ti­schen Cha­rak­ter trägt, kam es ideell wohl eher zu einer Erwei­te­rung der alten Bun­des­re­pu­blik als zu einem neuen Deutsch­land. Daran ändert auch die Über­ar­bei­tung die­ses Arti­kels nichts, der in Ver­bin­dung mit der auf alle Bun­des­län­der erwei­ter­ten Prä­am­bel insi­nu­iert, das Grund­ge­setz sei sei­ner eins­ti­gen Bestim­mung auto­ma­tisch ent­wach­sen. Fried­rich Dieck­mann sprach ein­mal davon, dass die Umwand­lung des Grund­ge­set­zes in eine tat­säch­lich volks­be­glau­bigte Ver­fas­sung durch diese Ände­rung auf den Sankt Nim­mer­leins­tag ver­scho­ben wor­den sei. Ich teile diese Beob­ach­tung, gerade mit dem besorg­ten Blick auf den aktu­el­len Zustand unse­rer Demokratie.

Einst erfolgte die Abstim­mung über das Grund­ge­setz ledig­lich durch Zustim­mung der Län­der­par­la­mente; die all­ge­meine Volks­ab­stim­mung war dem deut­schen Volk nach voll­zo­ge­ner Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands vor­be­hal­ten geblie­ben. Diese vor­nehme Auf­gabe ist – aus vie­len erklär­ten und sicher auch guten Grün­den – nicht erfüllt wor­den. Gleich­wohl wäre die „Volks­be­glau­bi­gung“ wich­tig gewe­sen, gerade nach der Selbst­be­haup­tung des Vol­kes in der DDR. Doch der Geist der Ver­än­de­rung wehte ungleich mehr in Ost als in West. Dort hatte man nicht nur die natio­nale Frage eigent­lich schon lange abge­hakt, son­dern sich auch in der Rhei­ni­schen Repu­blik ein­ge­rich­tet, in der noch heute das bun­des­mi­nis­te­riale Hin­ter­land verharrt.

Schon beim Sin­gen der alten, etwas reak­tio­nä­ren Natio­nal­hymne am 3. Okto­ber 1990 am Bran­den­bur­ger Tor hatte man das latente Gefühl, dass etwas nicht stimmt, dass nicht nur sym­bol­po­li­tisch eine Ver­ein­nah­mung ein­setzte, die man­che im „Bei­tritts­ge­biet“ heute selbst­be­wusst Kolo­nia­li­sie­rung nen­nen. Wenn schon keine Ver­fas­sung, dann doch wenigs­tens eine neue Musik zur erwei­ter­ten föde­ra­len Poly­pho­nie, das war die Hoff­nung, die man­cher­orts keimte und die Ver­än­de­rung des Gan­zen zumin­dest ästhe­tisch aus­zu­drü­cken strebte. Aber auch dazu kam es nicht. Als etwas gleich­sam Sta­ti­sches traf diese nach ihrer eige­nen Kon­flikt­ge­schichte final for­mierte par­la­men­ta­ri­sche Demo­kra­tie auf den Pio­nier­geist, der der an Staats­skle­rose erstarr­ten DDR ent­strömte. Sie beharrte weit­ge­hend auf Gewiss­hei­ten, Ver­fah­ren und Insti­tu­tio­nen und for­derte Spie­gel­bild­lich­keit ein. Im Osten hin­ge­gen war der Weg in die schnelle Wie­der­ver­ei­ni­gung ein für viele durch­aus über­ra­schen­der, der die Suche nach einer „bes­se­ren DDR“ inzi­dent ablöste. Man war gewis­ser­ma­ßen am Aus­pro­bie­ren der errun­ge­nen Frei­heit und des For­mens nicht über­drüs­sig – das Gegen­teil im Westen.

Den Bau­plan der deut­schen Ein­heit reprä­sen­tiert auch die jüngste Ver­fas­sungs­ge­schichte, die in Tei­len addi­tiv ver­lief: Neben das Grund­ge­setz trat mit Ver­fas­sungs­rang ein Eini­gungs­ver­trag, der sich im Übri­gen ent­ge­gen anders­lau­ten­den Auf­fas­sun­gen nicht erschöpft hat, also keine nur tran­si­to­ri­sche Norm ver­kör­pert. Die­ser Eini­gungs­ver­trag, der als Ver­trag zwi­schen zwei Staa­ten zumin­dest for­mal Augen­höhe bean­sprucht, spart nicht mit Pathos und beschwört die im Kern unge­teilt geblie­bene Kul­tur­na­tion. Und er nor­miert Deutsch­land anders als das Grund­ge­setz expli­zit als Kul­tur­staat. Das ist sicher eine sei­ner gro­ßen Leis­tun­gen, gleich­wohl er natür­lich pri­mär die Anpas­sung regelt und Nor­men für den Über­gang erlässt, etwa im Hin­blick auf das Enga­ge­ment des Bun­des. Aber er trägt auch neue Nor­mie­run­gen ins alte Staats­ge­biet und prägt das pro­gres­si­vere Kul­tur­ver­fas­sungs­recht der neuen Bun­des­län­der, wie Peter Häberle kon­sta­tiert. Doch wer­den diese Aus­wir­kun­gen sel­ten reflek­tiert, weil der Eini­gungs­ver­trag eher als ver­fas­sungs­recht­li­che Fuß­note auf­ge­fasst wird, die eben den Bei­tritt zum Gel­tungs­be­reich des Grund­ge­set­zes regelt.

Die heute oft beklagte Sub­al­ter­ni­tät der Ost­deut­schen resul­tiert aus einer man­geln­den Inklu­si­vi­tät, die im Ver­fas­sungs­ge­sche­hen bei­spiel­haft auf­scheint. Inklu­siv han­deln heißt, Pro­zesse aktiv mit­ge­stal­ten, die Grund­la­gen des Zusam­men­le­bens gemein­sam bestim­men – oder eben wie im Falle der Ver­fas­sung neu zu jus­tie­ren – und an Ent­schei­dun­gen aktiv Anteil haben zu kön­nen. Letz­te­res schei­terte allein durch den gra­vie­ren­den Eli­ten­wech­sel, sodass maß­geb­li­che Umset­zun­gen der deut­schen Ein­heit auf der Ebene der Bun­des- und Län­der­ver­wal­tun­gen haupt­säch­lich von west­deut­schem Per­so­nal erfolg­ten. Dass noch heute– wie es gerade Die Linke wie­der ein­mal tat – gefor­dert wer­den muss, Ost­deut­sche im Sinne der ange­mes­se­nen Reprä­sen­tanz in Füh­rungs­po­si­tio­nen zu brin­gen oder Bun­des­be­hör­den ver­stärkt in den neuen Bun­des­län­dern anzu­sie­deln, wo sie eben nicht ange­mes­sen ver­tre­ten sind, bleibt schon in der Geste demü­ti­gend. Und es ist demü­ti­gend, dass mit­un­ter eine ela­bo­rierte Defi­ni­ti­ons­ar­beit ent­wi­ckelt wird, wer heute eigent­lich als ost­deutsch zu gel­ten habe.

Zwar kön­nen frei­lich auch die Ost­deut­schen mit glei­chem Recht an unse­rer Demo­kra­tie teil­ha­ben. In bes­ter Ver­fas­sung sind wir aber aus der Per­spek­tive ihrer For­mie­rung und der Ver­fas­sungs­kul­tur nicht.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2019.

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Von |2020-04-14T16:29:25+02:00März 28th, 2019|Grundgesetz|Kommentare deaktiviert für

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Tobias J. Knoblich ist Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft e. V.