Räume für Empa­thie und soziale Verantwortung

Drei Fra­gen an Andreas Kühnel

Wel­che Rolle spielt das Thea­ter­spie­len in der Schule für die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung von Schü­le­rin­nen und Schülern?

Thea­ter stellt einen Erfah­rungs­raum dar, in dem Schü­le­rin­nen und Schü­ler ihre Iden­ti­tät erkun­den kön­nen. Beson­ders für jene, die lei­der oft­mals nicht als klas­si­sche „Leis­tungs­trä­ger“ ein­ge­stuft wer­den, kann Thea­ter eine Mög­lich­keit für Erfolgs­er­leb­nisse sein, sei es durch Büh­nen­prä­senz, krea­ti­ves Schrei­ben oder den Mut, sich zu zei­gen. So kann das Selbst­be­wusst­sein gestärkt, das Selbst­bild ver­bes­sert und oft die gesamte Ein­stel­lung zur Schule ver­än­dert werden.

Zudem för­dert Thea­ter soziale Inter­ak­tion. In einer Zeit digi­ta­ler Kom­mu­ni­ka­tion zwingt es zur direk­ten Aus­ein­an­der­set­zung, bei der Jugend­li­che ler­nen, sich auf­ein­an­der ein­zu­las­sen, zuzu­hö­ren und gegen­sei­tig für­ein­an­der Ver­ant­wor­tung zu über­neh­men. Thea­ter stärkt so nicht nur die Per­sön­lich­keit, son­dern auch die Wahr­neh­mung von Zusam­men­halt, ins­be­son­dere vor dem Hin­ter­grund inter­kul­tu­rel­len Zusam­men­le­bens und bie­tet damit unter ande­rem auch eine Chance der inte­gra­ti­ven und inklu­si­ven Partizipation.

Wel­che Eigen­schaf­ten und Kom­pe­ten­zen wer­den kon­kret mit dem Thea­ter­spie­len gefördert?

Das hes­si­sche Kern­cur­ri­cu­lum Dar­stel­len­des Spiel betont die ästhe­ti­sche Wahr­neh­mung, kör­per­li­che Aus­drucks­fä­hig­keit und gesell­schaft­li­che Refle­xion. Eine Schlüs­sel­kom­pe­tenz hier­bei ist die Kom­mu­ni­ka­tion, bei wel­cher Schü­le­rin­nen und Schü­ler ler­nen, ihre Stimme bewusst ein­zu­set­zen, Kör­per­spra­che zu kon­trol­lie­ren und ihre Bot­schaf­ten klar zu ver­mit­teln – eine Fähig­keit, die ihnen z. B. auch in Prä­sen­ta­tio­nen oder Bewer­bungs­ge­sprä­chen zugu­te­kommt. Rich­tig umge­setzt kön­nen mehr­spra­chige Schü­le­rin­nen und Schü­ler ler­nen, dass Thea­ter unab­hän­gig von Spra­che und Haut­farbe alle gleichbehandelt.

Thea­ter för­dert zudem Empa­thie. Wer in eine Rolle schlüpft, ver­setzt sich in andere Per­spek­ti­ven. Das hilft, Mecha­nis­men von Aus­gren­zung zu ver­ste­hen und Vor­ur­teile zu hin­ter­fra­gen – ein zen­tra­ler Aspekt unse­rer viel­fäl­ti­gen Gesell­schaft. Gerade in der Arbeit mit bio­gra­fi­schen Ele­men­ten oder doku­men­ta­ri­schen Stü­cken set­zen sich die Jugend­li­chen inten­siv mit aktu­el­len gesell­schaft­li­chen Fra­gen wie Krieg, Anti­se­mi­tis­mus etc. auseinander.

Auch Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz und Selbst­re­fle­xion wach­sen: Eine Szene gelingt sel­ten auf Anhieb. Jugend­li­che ler­nen in der gemein­sa­men Thea­ter­ar­beit, Kri­tik anzu­neh­men und Feh­ler als Chance zu begrei­fen. Diese Fähig­keit ist essen­zi­ell für Schule, Beruf und gesell­schaft­li­che sowie demo­kra­ti­sche Teilhabe.

Wel­che Bedeu­tung hat nach Ihrer Erfah­rung das Thea­ter­spie­len in all­ge­mein­bil­den­den Schu­len im Ver­gleich mit ande­ren künst­le­ri­schen Fächern und im Fächer­ka­non allgemein?

Thea­ter ver­bin­det Spra­che, Bewe­gung, Musik, Bil­dende Kunst und Büh­nen­tech­nik – Regie, Dra­ma­tur­gie und Dar­stel­lung. Im Ver­gleich mit Musik oder Kunst bie­tet es also vor allen Din­gen eine Mehr­di­men­sio­na­li­tät an Tätig­kei­ten, in der alle Teil­neh­men­den ihre Kom­pe­ten­zen best­mög­lich einsetzen.

Eine wich­tige Erfah­rung, die ich selbst in der Thea­ter­ar­beit machen durfte, ist das Stück „A.N.D.ers“, das ich mit mei­nen Schü­le­rin­nen und Schü­lern ent­wi­ckelt habe und wel­ches per­sön­li­che Erfah­run­gen mit Ras­sis­mus auf­greift und ver­ar­bei­tet. Viele Jugend­li­che haben hier erst­mals ihre eige­nen Geschich­ten und Wur­zeln ver­tieft – diese Erfah­rung hat ihr inter­kul­tu­rel­les Selbst­be­wusst­sein gestärkt und ihre Wahr­neh­mung für gesell­schaft­li­che Vor­ur­teile und Auf­ga­ben geschärft. Dass wir mit „A.N.D.ers“ die Aus­zeich­nung des Fair@school-Preis von Cor­nel­sen gewon­nen haben, bestä­tigte dem Ensem­ble, dass ihre Stim­men gehört wer­den. Im Jahr 2023 nahm ich mit einer Schü­ler­gruppe am bun­des­wei­ten Schul­thea­ter­tref­fen der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion aus Anlass des ras­sis­tisch moti­vier­ten Anschlags in Hanau teil. Der Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 zeigt, wie wich­tig es ist, über Ras­sis­mus zu spre­chen – nicht abs­trakt, son­dern durch per­sön­li­che Geschich­ten. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit rea­len Ereig­nis­sen schärft das Bewusst­sein für gesell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung und zeigt, dass Thea­ter Miss­stände the­ma­ti­sie­ren kann.

Trotz die­ser Stär­ken hat Thea­ter noch nicht den Platz im Lehr­plan, den es haben sollte. Wäh­rend Musik und Kunst eta­bliert und auch als Leis­tungs­kurs in der Ober­stufe wähl­bar sind, bleibt das Fach Dar­stel­len­des Spiel oft ein Wahl­fach oder eine AG. Dabei för­dern krea­ti­ves Arbei­ten und ästhe­ti­sche Bil­dung nicht nur kogni­tive Fähig­kei­ten, son­dern auch Schlüs­sel­kom­pe­ten­zen für eine demo­kra­ti­sche Gesellschaft.

Gerade in einer viel­fäl­ti­gen Gesell­schaft brau­chen wir Räume, in denen junge Men­schen Empa­thie und soziale Ver­ant­wor­tung ent­wi­ckeln. Thea­ter leis­tet hier einen ent­schei­den­den Bei­trag für Per­sön­lich­keits­bil­dung und eine offene demo­kra­ti­sche Gesellschaft.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 3/2025.

Von |2025-04-24T17:08:19+02:00April 24th, 2025|Einwanderungsgesellschaft, Kulturelle Vielfalt, Sprache, Teilhabe|Kommentare deaktiviert für

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Drei Fra­gen an Andreas Kühnel

Andreas Kühnel ist Oberstudienrat für Deutsch, Darstellendes Spiel und Musik an der Hohen Landesschule in Hanau, Leiter der TheaterGruppe HOLA und Autor.