Erzäh­len und Verschweigen

Zwei Gene­ra­tio­nen in der Migration

Mein Vater ser­viert mir Pilze, selbst gesam­melt und ein­ge­legt. Er hat sie nicht selbst gesam­melt, seine Knie machen das nicht mehr mit. Das Lau­fen über unebene Flä­chen im Wald, das Her­un­ter­beu­gen, um zu schauen, ob das unter dem Blatt ein Schmier­röhr­ling sein könnte. Mein Bru­der hat sie gesam­melt, so wie frü­her, so wie wir das in unse­rer Kind­heit in der Sowjet­union von mei­nem Vater gelernt haben und jedes Wochen­ende im Spät­som­mer taten. Dann hat er die gesam­mel­ten Pilze mei­nem Vater gebracht, sie haben sie viel­leicht zusam­men geputzt, mein Vater hat sie ein­ge­legt, nun ser­viert er sie mir zu Kar­tof­feln. Das ist viel­leicht, was mit den Gene­ra­tio­nen in der Migra­tion pas­siert: Was für mich eine Erin­ne­rung ist, ist für mei­nen Vater immer noch das Leben, wie es sich eigent­lich gehört. Mein Bru­der, der schon als jun­ger Erwach­se­ner nach Deutsch­land kam, dazwi­schen. Ich habe von mei­nem Vater gelernt, dann habe ich man­ches umge­lernt, weil mich neben mei­nen Eltern ein neues Leben in einem neuen Land schulte, und die Not­wen­dig­keit zu ver­ste­hen, wie die­ses Leben funk­tio­niert, um darin nicht zu verschwinden.

Wäh­rend mir mein Vater Pilze ser­viert, spre­chen wir. Wir spre­chen über Trump, über Neu­wah­len in Deutsch­land, über den Nah­ost­kon­flikt, über die Ukraine und Putin. Ich muss dif­fe­ren­zie­ren: Mein Vater spricht. Er spricht, ich werfe Nach­fra­gen ein, nehme mir noch mehr Sme­tana zu den Kar­tof­feln, passe auf, dass die Nach­fra­gen Nach­fra­gen blei­ben. Dass ich Empö­rung zügele, weil es so sel­ten ist, dass mein Vater und ich zusam­men Pilze essen. Ich muss dif­fe­ren­zie­ren: dass es so sel­ten ist, dass wir bei­ein­an­der­sit­zen, dass mein Vater spricht, ver­mut­lich auch, dass ich zuhöre. Es gibt die­ses Gesetz in unse­rer Fami­lie, dass wir, wenn wir, zu sel­ten, wür­den meine Eltern sagen, zusam­men­kom­men, nicht über Poli­tik spre­chen. Nie­mand sagt das so, aber wir wis­sen alle: damit es nicht eska­liert. Die Front­li­nien ver­lau­fen nicht zwi­schen den Gene­ra­tio­nen, son­dern den Geschlech­tern. Mein Bru­der und mein Vater, obwohl sie sich nicht einig, aber doch näher bei­ein­an­der sind, meine Mut­ter und ich, obwohl mein Vater die Rei­hen­folge ändern würde: du und deine Mut­ter, sie wie­der­holt doch nur, was du sagst, um sich dir näher zu füh­len. Und meine Mut­ter würde kon­tern, im Gegen­satz zu dir ver­su­che ich, eine neue Gene­ra­tion zu ver­ste­hen, ich lese nicht nur rus­si­sches Inter­net, ihr Tot­schlag­ar­gu­ment. Sie tut mei­nem Vater Unrecht, weil er im Gespräch mit mir etwas aus der Tages­schau zitiert. Es wäre ver­mut­lich ein­fa­cher, was er sagt, nur mit Des­in­for­ma­tion erklä­ren zu können.

An jedem Satz mei­nes Vaters, dem ich zustim­men würde, halte ich mich fest: dass wir uns nicht dia­me­tral gegen­über­ste­hen. Dass es Schnitt­punkte gibt, dass wir uns darin einig sind, was Unrecht ist; als mein Vater ein­mal „Zwei-Staa­ten-Lösung“ sagt, atme ich auf. Ich setze Tee­was­ser auf, Tee zu Kar­tof­feln, fragt mein Vater, das ist ganz was Neues. Dann teilt er ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­den­ten in zwei Kate­go­rien ein, abhän­gig von ihrer Ein­stel­lung zu Israel, wie sehr sie bereit waren, den Staat zu unter­stüt­zen. Ich schenke mir Tee ein, kon­zen­triere mich auf den Was­ser­ko­cher in mei­ner Hand, ver­su­che, das grö­ßere Bild zu erfas­sen: Wie vie­len geht es so wie mir, wie viele pral­len poli­tisch gegen die Eltern oder von ihnen ab, und wie ehr­lich spre­chen wir dar­über? Fami­liäre Prä­gun­gen, wie offen gehen wir mit ihnen um? Ein­mal sagte eine Freun­din, sie sei mit anti­se­mi­ti­schen und anti­mus­li­mi­schen Vor­stel­lun­gen auf­ge­wach­sen, und ich war erleich­tert, weil sie das erzählte. Wie ehr­lich erzäh­len wir von unse­ren Eltern, und wen schüt­zen wir, wenn wir beschlie­ßen, nicht zu erzäh­len? Wie sehr kön­nen wir uns selbst im Ver­schwei­gen begrei­fen und finden?

Der war zum Bei­spiel ein Anti­se­mit, sagt mein Vater über einen Poli­ti­ker, so ein­deu­tig wie bit­ter. Wenn er, sel­ten genug, aus sei­nem Leben erzählt, so erzählt er viel von Begren­zung: alles, was er in der Sowjet­union als Jude nicht durfte. Das Wort Jude, das ich auf Rus­sisch noch immer nicht gerne höre, weil es immer noch wie ein Makel klingt (Prä­gun­gen), nicht nur als Schimpf­wort, son­dern auch als Schick­sals­be­stim­mung, die man zu tra­gen hat: Es steht für sich, es braucht keine Prä­di­kate oder Neben­sätze. Warum bist du (nicht) …? Jude. Für mei­nen Vater ist diese Vor­stel­lung ein Halt: dass es ein Land gibt, in dem alle wie er sind, Juden, und wer die­sen Staat nicht unter­stütze, nun ja, hat eine Ent­schei­dung getrof­fen. Ich habe mei­nen Vater nach dem 7. Okto­ber nie gefragt, wie es ihm gehe. Ich schob das auf die par­al­lele pri­vate Ding­lich­keit in der Fami­lie, Erkran­kun­gen, die sich durch unsere Gesprä­che zogen. Oder aber ich war zu sehr mit mir beschäf­tigt, mit mei­ner eige­nen Erschüt­te­rung, mit dem, was unmit­tel­bar folgte: der Krieg in Gaza, das Gefühl, ver­lo­ren zu sein in der laut­star­ken Pola­ri­sie­rung hier­zu­lande. Mein Vater hat mich auch nie gefragt, wie es mir nach dem 7. Okto­ber gehe, und ich weiß immer noch nicht, ob ich auf Rus­sisch genug Worte gehabt hätte, um ihm all die Debat­ten, Anti­se­mi­tis­mus-Reso­lu­tion, Zuord­nung zu Grup­pen anhand von Unter­schrif­ten­lis­ten und Begriffs­wahl, Ängste ange­sichts ras­sis­ti­scher Poli­tik oder anti­se­mi­ti­scher kör­per­li­cher und ver­ba­ler Über­griffe, zu erklä­ren. Nun sit­zen wir uns gegen­über, ein Jahr ist ver­gan­gen. Mein Vater spricht, ich höre zu, bin nicht sicher, ob das rich­tig ist, nur zuzu­hö­ren, wir essen Pilze zusam­men wie jeden Herbst.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T14:57:31+01:00November 29th, 2024|Einwanderungsgesellschaft, Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Erzäh­len und Verschweigen

Zwei Gene­ra­tio­nen in der Migration

Lena Gorelik ist Autorin und Essayistin.