Hanna Veiler wurde 1998 in eine jüdische Familie in Belarus geboren und wuchs ab 2005 in einer süddeutschen Kleinstadt auf. Seit ihrer Jugend beschäftigt sie sich mit komplexen Identitäten, Migration und Erinnerungskultur. Seit Mai 2023 ist sie die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands. Sie arbeitet als Aktivistin, politische Bildnerin für unterschiedliche Organisationen und ist als Poetin und Publizistin kreativ tätig. Von der Bundeszentrale für Politische Bildung und dem „Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Extremismus und Gewalt“ wurde ihr herausragendes zivilgesellschaftliches Engagement mit der Auszeichnung „Botschafterin für Demokratie und Toleranz 2024“ gewürdigt. Sie erhielt außerdem die Auszeichnung „Frau Europas 2024“ von der Vertretung der Europäischen Kommission Berlin.
Du bist schon seit zehn Jahren in der jüdischen Community aktiv, über ein Jahr im Amt der Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland und wurdest vor kurzem mit dem Preis „Frau Europas 2024“ und als „Botschafterin für Demokratie und Toleranz“ ausgezeichnet. Was konntest du mit der JSUD bisher bewirken?
Häufig wird vergessen, wie jung die JSUD als Organisation ist. Es gibt uns erst seit 8 Jahren. In diesem kurzen Zeitraum hat sie sich als laute und selbstbewusste junge jüdische Stimme in der Öffentlichkeit etabliert. Seit der aktuelle Vorstand im Amt ist, haben wir unermüdlich daran gearbeitet, vor allem nach dem 7. Oktober, gegen Antisemitismus einzustehen und das Leben junger Jüdinnen und Juden sicherer zu machen. Neben unserer politischen Arbeit haben wir sichere Räume für Studierende organisiert, uns für die Freilassung aller Geiseln der Hamas eingesetzt und Vieles mehr. All dies kann man zum Beispiel auf dem Instagram Account der JSUD (jsud_official) sehen.
Auf Instagram lässt du über 17.000 Follower an deiner Arbeit teilhaben, klärst zu vielfältigen Themen in Bezug auf jüdisches Leben in Deutschland und Antisemitismus auf und bringst bei deinen „Rants With Hanna“ offen und klug deinen Unmut zum Ausdruck. Die Kommentare sind gespalten, wie nie. Ist Social Media momentan Fluch oder Segen? Wer oder was kann darüber erreicht werden?
Eigentlich nutze ich Social Media sehr gerne, weil ich daran glaube, dass es dazu beiträgt bisher marginalisierten Narrativen und Geschichten eine Plattform zu gaben. Es hilft uns, mit unserer eigenen Stimme zu erzählen, wer wir sind, wofür wir stehen und was unser Leben ausmacht. Gleichzeitig kriegen ich und viele andere spätestens seit dem 7. Oktober eine Unmenge an Hassnachrichten und Drohungen über die Sozialen Medien.
Seit Monaten beobachten wir, wie viele gefährliche Falschinformationen und Verschwörungserzählungen im digitalen Raum kursieren. Deswegen ist für mich klar, dass die Unternehmen hinter den Plattformen und die Politik mehr als je zuvor in der Verantwortung stehen, auch den digitalen Raum sicherer zu machen. Ich persönlich bleibe online, weil ich davon überzeugt bin, dass es keine Option ist, irgendeinen Raum den Antisemiten zu überlassen. Gleichzeitig zahlen ich und viele andere einen hohen Preis für diesen Widerstand.
Wie beeinflusst die fehlende Solidarität mit Jüdinnen und Juden angesichts des erstarkten Rechtsextremismus in Deutschland, der nunmehr im Ergebnis der Europawahl sichtbar wurde, deine Arbeit für die JSUD? Was kann jetzt jede und jeder von uns tun, um unsere Demokratie zu schützen und geleichzeitig gegen Antisemitismus aktiv zu werden?
Vor wenigen Monaten gingen tausende von Menschen in Deutschland auf die Straße, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. So sehr wir uns darüber freuten, weil Antisemitismus dem Rechtsextremismus inhärent ist und es sich für uns um eine existenzielle Bedrohung handelt, mussten wir auch enttäuscht feststellen, dass viele der Menschen den Antisemitismus einfach ausklammerten. Er wurde an vielen Stellen nicht als Phänomen mitgedacht. Auf mancher der Demos liefen sogar Antisemiten mit. Ich denke, das macht deutlich, wo für uns das Problem liegt.
Für viele Menschen in diesem Land ist die rechtsextremistische Gefahr nicht abstrakt, sondern alltäglich präsent. Sie können sich oft nicht aussuchen, ob sie sich dagegen einsetzen oder nicht. Deswegen wünsche ich mir von vielen Menschen mehr Reflektion, mehr Einsatz dagegen, aber auch mehr Auseinandersetzung mit der Ideologie dahinter und mit Antisemitismus.
Du wurdest in Belarus geboren und kommst damit wie der Großteil der jüdischen Community in Deutschland aus der ehemaligen Sowjetunion. Dort warst du zwar in einem jüdischen Kindergarten, hast aber unter den Nachwirkungen von Repressionen deine Jüdischkeit erst als Jugendliche in Deutschland für dich entdeckt. Was schätzt du an ihr?
Mein Judentum ist der wichtigste Pfeiler meiner Identität. Ich liebe unsere Community, liebe unsere Geschichte – in der es auch sehr viel Beeindruckendes und nicht nur Verfolgung gibt – und unsere Bräuche. Mein Judentum gibt mir Kraft, um für eine bessere Welt einzustehen und niemals aufzugeben.
Die 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration tragen den Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“. Was bedeutet für dich „Zusammenhalt in Vielfalt“ und welche der 15 Thesen ist deine „Lieblingsthese“? Ich bin sehr hin und hergerissen zwischen den Thesen 12 und 13, da ich sehr an die Kraft der Sprache glaube, aber auch daran, dass Geschichte zu verstehen, absolut notwendig ist, um im Hier und Jetzt handeln zu können.
„Zusammenhalt in Vielfalt“ steht für mich für einen Arbeitsauftrag? Wir sind zweifellos eine vielfältige Gesellschaft, aber halten wir auch zusammen? Kennen wir einander genug? Sind wir in der Lage, die Geschichten des anderen zu verstehen und empathisch zu sein, auch wenn es vielleicht nicht unsere eigene Geschichte ist? Diese Frage müssen wir alle für uns selbst beantworten. Für mich ist das eine Utopie, der ich mit meiner Arbeit näherkommen möchte.
Vielen Dank!