Nie wie­der: „Nie wieder!“

Kul­tur und Kul­tur­po­li­tik brau­chen eine neue Wertedebatte

Die docu­menta fif­teen steht für einen Epo­chen­bruch im Nach­kriegs-Anti­se­mi­tis­mus, für eine Kul­tur der insti­tu­tio­nel­len Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit sowie für einen nai­ven Begriff der Kunstfreiheit.

Anti­se­mi­tis­mus­skan­dale gab es viele in der deut­schen Nach­kriegs­ge­schichte. Bis­her galt: Egal, wie sie ver­lie­fen, am Ende stand die gesell­schaft­li­che Äch­tung des Anti­se­mi­tis­mus durch die demo­kra­ti­schen Kräfte und den Staat.

Inso­fern stellt docu­menta fif­teen eine Zei­ten­wende dar, ein ech­ter Wen­de­punkt. Auch acht Wochen nach Start tau­chen immer wie­der neue anti­se­mi­ti­sche Werke auf; längst bekannte ste­hen wei­ter unkom­men­tiert im Raum.

Wie konnte es so weit kom­men? Trotz zahl­rei­cher War­nun­gen tra­fen die Ver­ant­wort­li­chen keine Vor­keh­run­gen. Sie igno­rier­ten, dass eine Nähe zur anti­is­rae­li­schen Boy­kott­kam­pa­gne BDS, nicht immer, aber oft Anti­se­mi­tis­mus mit sich bringt. Was man heute über Israel und die Zio­nis­ten sagt, will man wegen der Shoah über Juden nicht mehr aus­spre­chen. Ob Kin­der­mör­der oder Brun­nen­ver­gif­ter, ob Rach­sucht oder Scha­cher – im Reper­toire des heu­ti­gen Isra­el­has­ses fin­det sich vie­les vom mit­tel­al­ter­li­chen Anti­ju­da­is­mus bis Antisemitismus.

Die Kul­tur­po­li­tik schlug alle War­nun­gen in den Wind und folgte damit weit­ge­hend der Initia­tive GG 5.3 Welt­of­fen­heit, einem Auf­ruf zahl­rei­cher staat­lich finan­zier­ter Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die sich gegen den Anti-BDS-Beschluss des Deut­schen Bun­des­ta­ges wandte. Sie pos­tu­liert „(e)s ist unpro­duk­tiv und für eine demo­kra­ti­sche Öffent­lich­keit abträg­lich, wenn wich­tige lokale und inter­na­tio­nale Stim­men aus dem kri­ti­schen Dia­log aus­ge­grenzt wer­den sol­len“ und schließt damit Boy­kotte gegen Israe­lis und kol­por­tierte anti­jü­di­sche Topoi wis­sent­lich mit ein.

Der Auf­sichts­rat begab sich vor­sätz­lich auf Gedeih und Ver­derb in die Hände des Kura­to­ren­kol­lek­tivs ruan­grupa. Ohne Kon­sens mit ruan­grupa, so Minis­te­rin Angela Dorn bei Face­book, könne man Anti­se­mi­tis­mus auf der docu­menta nicht Ein­halt bie­ten, son­dern gefährde das Kunst­e­vent. Das ist eine Struk­tur der orga­ni­sier­ten Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit! Sie ent­spricht aber auch dem gehyp­ten Bedürf­nis, einer ima­gi­nier­ten Stimme eines kon­stru­ier­ten „Glo­ba­len Südens“ andäch­tig zu lau­schen, statt sich mit der vor­han­de­nen Plu­ra­li­tät tat­säch­lich auseinanderzusetzen.

Es wird gelie­fert wie bestellt: Das Kura­to­ren­team feu­ert ein anti­se­mi­ti­sches Feu­er­werk ab, ob beab­sich­tigt oder nur unkon­trol­liert sei dahin­ge­stellt. Zahl­rei­che aus­ge­stellte Werke ver­harm­lo­sen den Ter­ror gegen Israe­lis, nut­zen anti­se­mi­ti­sche Iko­no­gra­fie und ver­teu­feln Israel. Ein Werk wurde erst ver­hängt und dann erst abge­baut – unter Pro­test ande­rer Künst­ler. Und was folgte? Nichts! Ein Inte­rims-Geschäfts­füh­rer folgte zwar der zurück­ge­tre­te­nen Gene­ral­di­rek­to­rin, setzte ihre Poli­tik aber 1:1 fort. Her­aus­ge­schmis­se­nes Geld für den Aufhebungsvertrag.

Der vor Kur­zem ein­ge­setz­ten Exper­ten­kom­mis­sion gehö­ren nur zwei Anti­se­mi­tis­mus-Exper­tin­nen an – aber auch der juris­ti­sche Chef­be­ra­ter der Initia­tive GG 5.3 Welt­of­fen­heit. Selbst wenn die Kom­mis­sion jetzt arbei­tet und sich auf eine Linie ver­stän­digte, bleibt das für die docu­menta ergeb­nis­los, denn die Werke wur­den bereits gese­hen und Ende Sep­tem­ber ist Schluss.

Das Deba­kel ist auch ein Ergeb­nis eines schran­ken­lo­sen und nai­ven Begrif­fes von Kunst­frei­heit. So pre­digte der Kas­se­ler Ober­bür­ger­meis­ter Chris­tian Geselle: „Einen Ein­griff in die künst­le­ri­sche Frei­heit darf und wird es mit mir nicht geben … zumal hier keine straf­recht­lich rele­van­ten Ver­stöße vor­lie­gen.“ Aber: Die Kunst­frei­heit ist kein Super­grund­recht. Wie alle ande­ren Frei­hei­ten – Mei­nungs-, Ver­samm­lungs-, Presse- und Wis­sen­schafts­frei­heit –, hat sie ihre Grenze da, wo ihre Aus­übung einen Angriff auf die Men­schen­würde und die Grund­rechte ande­rer darstellt.

Eine frei­heit­li­che Gesell­schaft ist dar­auf ange­wie­sen, dass diese roten Linien nicht nur von der Staats­an­walt­schaft, son­dern auch gesell­schaft­lich ver­tei­digt wer­den. Man nimmt Kunst nicht ernst, wenn man ver­tritt, dass alles, was unter dem Ban­ner der Kunst segelt und nicht ver­bo­ten ist, unkom­men­tiert und über­all ver­brei­tet wer­den kann. Wer mit sol­cher Belie­big- und Hal­tungs­lo­sig­keit für die Kunst Nar­ren­frei­heit for­dert, ent­wer­tet den Bei­trag von Kunst und Kul­tur für die demo­kra­ti­sche Gesellschaft.

Die Akteu­rin­nen und Akteure in der Kul­tur und Kul­tur­po­li­tik brau­chen eine Wer­te­de­batte. Durch ihr Han­deln und Tun wird das demo­kra­ti­sche Credo „Nie wie­der!“ künf­tig nicht mehr den glei­chen ernst­haf­ten Klang haben.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.

Von |2023-03-02T15:19:16+01:00September 5th, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

Nie wie­der: „Nie wieder!“

Kul­tur und Kul­tur­po­li­tik brau­chen eine neue Wertedebatte

Volker Beck ist geschäftsführender Gesellschafter des Tikvah Institut gUG, das sich mit Antisemitismusforschung und -prävention beschäftigt, und Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG).