Volker Beck 5. September 2022 Logo_Initiative_print.png

Nie wie­der: „Nie wieder!“

Kul­tur und Kul­tur­po­li­tik brau­chen eine neue Wertedebatte

Die documenta fifteen steht für einen Epochenbruch im Nachkriegs-Antisemitismus, für eine Kultur der institutionellen Verantwortungslosigkeit sowie für einen naiven Begriff der Kunstfreiheit.

Antisemitismusskandale gab es viele in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Bisher galt: Egal, wie sie verliefen, am Ende stand die gesellschaftliche Ächtung des Antisemitismus durch die demokratischen Kräfte und den Staat.

Insofern stellt documenta fifteen eine Zeitenwende dar, ein echter Wendepunkt. Auch acht Wochen nach Start tauchen immer wieder neue antisemitische Werke auf; längst bekannte stehen weiter unkommentiert im Raum.

Wie konnte es so weit kommen? Trotz zahlreicher Warnungen trafen die Verantwortlichen keine Vorkehrungen. Sie ignorierten, dass eine Nähe zur antiisraelischen Boykottkampagne BDS, nicht immer, aber oft Antisemitismus mit sich bringt. Was man heute über Israel und die Zionisten sagt, will man wegen der Shoah über Juden nicht mehr aussprechen. Ob Kindermörder oder Brunnenvergifter, ob Rachsucht oder Schacher – im Repertoire des heutigen Israelhasses findet sich vieles vom mittelalterlichen Antijudaismus bis Antisemitismus.

Die Kulturpolitik schlug alle Warnungen in den Wind und folgte damit weitgehend der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, einem Aufruf zahlreicher staatlich finanzierter Kultureinrichtungen, die sich gegen den Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestages wandte. Sie postuliert „(e)s ist unproduktiv und für eine demokratische Öffentlichkeit abträglich, wenn wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden sollen“ und schließt damit Boykotte gegen Israelis und kolportierte antijüdische Topoi wissentlich mit ein.

Der Aufsichtsrat begab sich vorsätzlich auf Gedeih und Verderb in die Hände des Kuratorenkollektivs ruangrupa. Ohne Konsens mit ruangrupa, so Ministerin Angela Dorn bei Facebook, könne man Antisemitismus auf der documenta nicht Einhalt bieten, sondern gefährde das Kunstevent. Das ist eine Struktur der organisierten Verantwortungslosigkeit! Sie entspricht aber auch dem gehypten Bedürfnis, einer imaginierten Stimme eines konstruierten „Globalen Südens“ andächtig zu lauschen, statt sich mit der vorhandenen Pluralität tatsächlich auseinanderzusetzen.

Es wird geliefert wie bestellt: Das Kuratorenteam feuert ein antisemitisches Feuerwerk ab, ob beabsichtigt oder nur unkontrolliert sei dahingestellt. Zahlreiche ausgestellte Werke verharmlosen den Terror gegen Israelis, nutzen antisemitische Ikonografie und verteufeln Israel. Ein Werk wurde erst verhängt und dann erst abgebaut – unter Protest anderer Künstler. Und was folgte? Nichts! Ein Interims-Geschäftsführer folgte zwar der zurückgetretenen Generaldirektorin, setzte ihre Politik aber 1:1 fort. Herausgeschmissenes Geld für den Aufhebungsvertrag.

Der vor Kurzem eingesetzten Expertenkommission gehören nur zwei Antisemitismus-Expertinnen an – aber auch der juristische Chefberater der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit. Selbst wenn die Kommission jetzt arbeitet und sich auf eine Linie verständigte, bleibt das für die documenta ergebnislos, denn die Werke wurden bereits gesehen und Ende September ist Schluss.

Das Debakel ist auch ein Ergebnis eines schrankenlosen und naiven Begriffes von Kunstfreiheit. So predigte der Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle: „Einen Eingriff in die künstlerische Freiheit darf und wird es mit mir nicht geben … zumal hier keine strafrechtlich relevanten Verstöße vorliegen.“ Aber: Die Kunstfreiheit ist kein Supergrundrecht. Wie alle anderen Freiheiten – Meinungs-, Versammlungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit –, hat sie ihre Grenze da, wo ihre Ausübung einen Angriff auf die Menschenwürde und die Grundrechte anderer darstellt.

Eine freiheitliche Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass diese roten Linien nicht nur von der Staatsanwaltschaft, sondern auch gesellschaftlich verteidigt werden. Man nimmt Kunst nicht ernst, wenn man vertritt, dass alles, was unter dem Banner der Kunst segelt und nicht verboten ist, unkommentiert und überall verbreitet werden kann. Wer mit solcher Beliebig- und Haltungslosigkeit für die Kunst Narrenfreiheit fordert, entwertet den Beitrag von Kunst und Kultur für die demokratische Gesellschaft.

Die Akteurinnen und Akteure in der Kultur und Kulturpolitik brauchen eine Wertedebatte. Durch ihr Handeln und Tun wird das demokratische Credo „Nie wieder!“ künftig nicht mehr den gleichen ernsthaften Klang haben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.

Copyright: Alle Rechte bei Initiative kulturelle Integration

Adresse: https://www.kulturelle-integration.de/2022/09/05/nie-wieder-nie-wieder/