Kunst und Politik

Ein his­to­ri­scher Blick auf die documenta

Als ich 2017 am Deut­schen His­to­ri­schen Museum anfing, über­legte ich mir, das Ver­hält­nis von Kunst und his­to­ri­schen Aus­stel­lun­gen in einer Schau zu beleuch­ten. Mir fiel auf, wel­chen gro­ßen und bedeu­ten­den Anteil Kunst­werke an der Samm­lung des Muse­ums haben. Sie wur­den vor allem des­halb in die Samm­lung auf­ge­nom­men, weil sie von his­to­ri­schen Ereig­nis­sen, sich wan­deln­den Ein­stel­lun­gen oder auch vom All­tag in ver­gan­ge­nen Zei­ten zeu­gen. Was aber bedeu­tet es, wenn ein Kunst­werk in einem his­to­ri­schen Museum gezeigt wird? Wie ver­än­dern sich Betrach­tungs­weise und Sinn des Kunst­wer­kes? Wird es zu einer Quelle degra­diert? Wird das, was wir Geschichte nen­nen, durch Kunst­werke mit Anschau­ung ange­rei­chert? In wel­chem Ver­hält­nis ste­hen ästhe­ti­sche und his­to­ri­sche Urteils­kraft zueinander?

Die docu­menta ist die wohl berühm­teste inter­na­tio­nale Kunst­aus­stel­lung, die je in Deutsch­land ver­an­stal­tet wurde. Um ihrer his­to­ri­schen Bedeu­tung in einer Aus­stel­lung gerecht zu wer­den, suchte ich nach einem Team, wel­ches das Ver­hält­nis von Kunst, Poli­tik und Geschichte erfor­schen und aus­stel­len konnte. Es stellte sich schnell her­aus, dass sich für diese Auf­gabe nur ein inter­dis­zi­pli­nä­res Team eig­nen würde, und ich war froh, den Kura­tor und Kunst­his­to­ri­ker Lars Bang Lar­sen, die Zeit­his­to­ri­ke­rin Doro­thee Wier­ling und die Wis­sen­schafts- und Kunst­his­to­ri­ke­rin Julia Voss dafür zu gewinnen.

Bereits im Okto­ber 2019 ver­an­stal­te­ten wir ein ganz­tä­gi­ges Sym­po­sium unter dem Titel „docu­menta. Geschichte/Kunst/Politik“. Zudem wurde die von Wolf­gang Braun­eis kura­tierte Aus­stel­lung „Die Liste der ›Gott­be­gna­de­ten‹. Künst­ler des Natio­nal­so­zia­lis­mus in der Bun­des­re­pu­blik“ dis­ku­tiert, die par­al­lel zur docu­menta-Aus­stel­lung gezeigt wor­den ist. Hier wurde mir erst­mals deut­lich, dass es sich dabei nicht um gegen­sätz­li­che Pro­jekte han­delte, so, als stünde auf der einen Seite die moderne, pro-west­li­che, for­ma­lis­ti­sche, demo­kra­ti­sche docu­menta, auf der ande­ren das Fort­wir­ken natio­nal­so­zia­lis­tisch imprä­gnier­ter, reak­tio­nä­rer, anti-moder­nis­ti­scher Kunst. Ins­be­son­dere die Kunst­his­to­ri­ke­rin Julia Fried­rich hat in ihrem Vor­trag klar her­aus­ge­stellt, wel­che Kon­ti­nui­tä­ten sich eben auch in der docu­menta auf­zei­gen las­sen. Die auf­er­stan­dene, in der Ruine des Fri­de­ri­cianums insze­nierte Moderne sollte einer­seits an die Vor­kriegs­avant­garde anknüp­fen und so den Abgrund über­brü­cken, der die junge Bun­des­re­pu­blik von die­ser Epo­che trennte. Ande­rer­seits lud sie zu einer allzu glat­ten Ver­söh­nung ein, zur Iden­ti­fi­ka­tion der Kura­to­ren und ihres moder­nis­ti­schen Publi­kums mit den Geg­nern und sogar Opfern der Nationalsozialisten.

Tat­säch­lich führte mich 2021 dann ein Zufall auf die Spur einer noch enge­ren Ver­bin­dung der docu­menta-Anfänge mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus: Der His­to­ri­ker Carlo Gen­tile erwähnte mir gegen­über in einem Gespräch über das neu zu grün­dende Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum zur deut­schen Besat­zung Euro­pas und ihrer Gewalt­ver­bre­chen der Jahre 1939 bis 1945, dass es hierzu in ita­lie­ni­schen Archi­ven auch Mate­ria­lien zu einer zen­tra­len Figur der spä­te­ren docu­menta gebe: Wer­ner Haft­mann. Einer der wich­tigs­ten Ideen­ge­ber der docu­menta 1 bis 3 war in der NS-Zeit in Ita­lien offen­bar an Kriegs­ver­bre­chen betei­ligt, etwa der Fol­te­rung von Partisanen.

Im Zuge der ers­ten Über­le­gun­gen zur Dop­pel­aus­stel­lung ab 2017 schie­nen also die bei­den Sei­ten zunächst ein­fach nur Gegen­pole zu sein: auf der einen Seite der Nach­hall natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Ästhe­tik in öffent­li­chen Wer­ken von Hit­lers und Goeb­bels ehe­ma­li­gen Lieb­lings­künst­lern, die sie auf die „Gott­be­gna­de­ten-Liste“ gesetzt hat­ten und die nach 1945 wei­ter­hin wesent­li­che Räume der BRD gestal­ten durf­ten. Auf der ande­ren Seite die drei Vek­to­ren der Geschichte der docu­menta: Kampf gegen die anti-moder­nis­ti­schen NS-Kunst­vor­stel­lun­gen, gegen die DDR und den Ost­block sowie eine Hin­wen­dung zum „Wes­ten“, ver­stan­den als der poli­tisch-mora­lisch-ästhe­ti­sche Gegen­pol zum Ost­block. Aber diese Pola­ri­tät löste sich zuneh­mend auf, je mehr und genauer wir forsch­ten – das Ergeb­nis konnte man in den bei­den Aus­stel­lun­gen dann sehen.

Die Frage nach dem Ver­hält­nis von Kunst­werk und his­to­ri­schem Museum hat sich durch die­ses Pro­jekt noch nicht beant­wor­tet. Im Gegen­teil: Sie ist noch­mals viel­schich­ti­ger gewor­den. Unsere For­schung und unsere Erfah­rung mit der Geschichte der docu­menta hat uns gezeigt, wie sehr unsere ästhe­ti­sche Urteils­kraft auch von his­to­ri­schem Wis­sen bestimmt wird, wie his­to­ri­sche Erkennt­nisse ästhe­ti­sche Urteile beein­flus­sen und korrigieren.

Was bleibt? Mit ihrer Rede, die sie eigent­lich im Rah­men der Gesprächs­reihe „We need to talk“ hätte hal­ten wol­len, sprach die Künst­le­rin Hito Stey­erl von unse­rer Aus­stel­lung als einer „Zei­ten­wende“: Zwar sei es den kura­to­ri­schen Teams der docu­menta wei­ter­hin prin­zi­pi­ell mög­lich, die Geschichte die­ser Aus­stel­lung sowie die Geschichte Deutsch­lands zu igno­rie­ren. Aber, so fasste sie zusam­men: „Seit der DHM-Aus­stel­lung gilt auch: Wenn die Aus­stel­lung selbst ihre Geschichte igno­riert, dann wird sie von ande­ren historisiert.“

Wie das zukünf­tig gesche­hen wird, kön­nen wir heute noch nicht wis­sen. Auch die docu­menta 11 bis 15 wer­den sicher künf­tig noch ein­mal stär­ker his­to­risch unter­sucht wer­den. Mit Abstand wäre es aus der Per­spek­tive der Geschichts­schrei­bung wün­schens­wert, die Aus­stel­lun­gen dabei stär­ker ver­glei­chend in den Blick zu neh­men, gerade auch mit sämt­li­chen frü­he­ren. Wie ent­wi­ckelt sich das Ver­hält­nis zu den bereits in unse­rer Aus­stel­lung zen­tra­len The­men: Natio­nal­so­zia­lis­mus, Kal­ter Krieg und West­ori­en­tie­rung? Dane­ben wer­den aber auch The­men hin­zu­kom­men, die viel­leicht erst jetzt als zen­tral erkannt wer­den: etwa das Ver­hält­nis zu den ehe­ma­li­gen Kolo­nien, zum Kolo­nia­lis­mus und zum Anti­ko­lo­nia­lis­mus. Wel­che Kon­ti­nui­tä­ten und wel­che Brü­che fin­den sich? Wir sehen also: Die Dis­kus­sio­nen um das Thema Auf­bruch und Behar­ren, Auf­klä­rung und Ver­drän­gung, Bli­cker­wei­te­rung und Ein­schrän­kung, diese und mehr kon­tra­dik­to­ri­sche Bewe­gun­gen wären in einer künf­ti­gen ver­glei­chen­den Betrach­tung noch viel stär­ker zu unter­su­chen, um das Span­nungs­feld von Geschichte, Kunst und Poli­tik in der deut­schen Nach­kriegs­ge­schichte bes­ser zu begrei­fen. Das könnte uns hel­fen, die Bedeu­tung von Kon­flik­ten wie auch des Zusam­men­spiels zwi­schen ästhe­ti­schen, his­to­ri­schen und poli­ti­schen Urtei­len, die gegen­wär­tig in der Öffent­lich­keit so wich­tig sind, bes­ser zu verstehen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.
Von |2023-03-02T15:18:07+01:00September 5th, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

Kunst und Politik

Ein his­to­ri­scher Blick auf die documenta

Raphael Gross ist Präsident des Deutschen Historischen Museums, das bis Januar 2022 die Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ zeigte.