Raphael Gross 5. September 2022 Logo_Initiative_print.png

Kunst und Politik

Ein his­to­ri­scher Blick auf die documenta

Als ich 2017 am Deutschen Historischen Museum anfing, überlegte ich mir, das Verhältnis von Kunst und historischen Ausstellungen in einer Schau zu beleuchten. Mir fiel auf, welchen großen und bedeutenden Anteil Kunstwerke an der Sammlung des Museums haben. Sie wurden vor allem deshalb in die Sammlung aufgenommen, weil sie von historischen Ereignissen, sich wandelnden Einstellungen oder auch vom Alltag in vergangenen Zeiten zeugen. Was aber bedeutet es, wenn ein Kunstwerk in einem historischen Museum gezeigt wird? Wie verändern sich Betrachtungsweise und Sinn des Kunstwerkes? Wird es zu einer Quelle degradiert? Wird das, was wir Geschichte nennen, durch Kunstwerke mit Anschauung angereichert? In welchem Verhältnis stehen ästhetische und historische Urteilskraft zueinander?

Die documenta ist die wohl berühmteste internationale Kunstausstellung, die je in Deutschland veranstaltet wurde. Um ihrer historischen Bedeutung in einer Ausstellung gerecht zu werden, suchte ich nach einem Team, welches das Verhältnis von Kunst, Politik und Geschichte erforschen und ausstellen konnte. Es stellte sich schnell heraus, dass sich für diese Aufgabe nur ein interdisziplinäres Team eignen würde, und ich war froh, den Kurator und Kunsthistoriker Lars Bang Larsen, die Zeithistorikerin Dorothee Wierling und die Wissenschafts- und Kunsthistorikerin Julia Voss dafür zu gewinnen.

Bereits im Oktober 2019 veranstalteten wir ein ganztägiges Symposium unter dem Titel „documenta. Geschichte/Kunst/Politik“. Zudem wurde die von Wolfgang Brauneis kuratierte Ausstellung „Die Liste der ›Gottbegnadeten‹. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik“ diskutiert, die parallel zur documenta-Ausstellung gezeigt worden ist. Hier wurde mir erstmals deutlich, dass es sich dabei nicht um gegensätzliche Projekte handelte, so, als stünde auf der einen Seite die moderne, pro-westliche, formalistische, demokratische documenta, auf der anderen das Fortwirken nationalsozialistisch imprägnierter, reaktionärer, anti-modernistischer Kunst. Insbesondere die Kunsthistorikerin Julia Friedrich hat in ihrem Vortrag klar herausgestellt, welche Kontinuitäten sich eben auch in der documenta aufzeigen lassen. Die auferstandene, in der Ruine des Fridericianums inszenierte Moderne sollte einerseits an die Vorkriegsavantgarde anknüpfen und so den Abgrund überbrücken, der die junge Bundesrepublik von dieser Epoche trennte. Andererseits lud sie zu einer allzu glatten Versöhnung ein, zur Identifikation der Kuratoren und ihres modernistischen Publikums mit den Gegnern und sogar Opfern der Nationalsozialisten.

Tatsächlich führte mich 2021 dann ein Zufall auf die Spur einer noch engeren Verbindung der documenta-Anfänge mit dem Nationalsozialismus: Der Historiker Carlo Gentile erwähnte mir gegenüber in einem Gespräch über das neu zu gründende Dokumentationszentrum zur deutschen Besatzung Europas und ihrer Gewaltverbrechen der Jahre 1939 bis 1945, dass es hierzu in italienischen Archiven auch Materialien zu einer zentralen Figur der späteren documenta gebe: Werner Haftmann. Einer der wichtigsten Ideengeber der documenta 1 bis 3 war in der NS-Zeit in Italien offenbar an Kriegsverbrechen beteiligt, etwa der Folterung von Partisanen.

Im Zuge der ersten Überlegungen zur Doppelausstellung ab 2017 schienen also die beiden Seiten zunächst einfach nur Gegenpole zu sein: auf der einen Seite der Nachhall nationalsozialistischer Ästhetik in öffentlichen Werken von Hitlers und Goebbels ehemaligen Lieblingskünstlern, die sie auf die „Gottbegnadeten-Liste“ gesetzt hatten und die nach 1945 weiterhin wesentliche Räume der BRD gestalten durften. Auf der anderen Seite die drei Vektoren der Geschichte der documenta: Kampf gegen die anti-modernistischen NS-Kunstvorstellungen, gegen die DDR und den Ostblock sowie eine Hinwendung zum „Westen“, verstanden als der politisch-moralisch-ästhetische Gegenpol zum Ostblock. Aber diese Polarität löste sich zunehmend auf, je mehr und genauer wir forschten – das Ergebnis konnte man in den beiden Ausstellungen dann sehen.

Die Frage nach dem Verhältnis von Kunstwerk und historischem Museum hat sich durch dieses Projekt noch nicht beantwortet. Im Gegenteil: Sie ist nochmals vielschichtiger geworden. Unsere Forschung und unsere Erfahrung mit der Geschichte der documenta hat uns gezeigt, wie sehr unsere ästhetische Urteilskraft auch von historischem Wissen bestimmt wird, wie historische Erkenntnisse ästhetische Urteile beeinflussen und korrigieren.

Was bleibt? Mit ihrer Rede, die sie eigentlich im Rahmen der Gesprächsreihe „We need to talk“ hätte halten wollen, sprach die Künstlerin Hito Steyerl von unserer Ausstellung als einer „Zeitenwende“: Zwar sei es den kuratorischen Teams der documenta weiterhin prinzipiell möglich, die Geschichte dieser Ausstellung sowie die Geschichte Deutschlands zu ignorieren. Aber, so fasste sie zusammen: „Seit der DHM-Ausstellung gilt auch: Wenn die Ausstellung selbst ihre Geschichte ignoriert, dann wird sie von anderen historisiert.“

Wie das zukünftig geschehen wird, können wir heute noch nicht wissen. Auch die documenta 11 bis 15 werden sicher künftig noch einmal stärker historisch untersucht werden. Mit Abstand wäre es aus der Perspektive der Geschichtsschreibung wünschenswert, die Ausstellungen dabei stärker vergleichend in den Blick zu nehmen, gerade auch mit sämtlichen früheren. Wie entwickelt sich das Verhältnis zu den bereits in unserer Ausstellung zentralen Themen: Nationalsozialismus, Kalter Krieg und Westorientierung? Daneben werden aber auch Themen hinzukommen, die vielleicht erst jetzt als zentral erkannt werden: etwa das Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien, zum Kolonialismus und zum Antikolonialismus. Welche Kontinuitäten und welche Brüche finden sich? Wir sehen also: Die Diskussionen um das Thema Aufbruch und Beharren, Aufklärung und Verdrängung, Blickerweiterung und Einschränkung, diese und mehr kontradiktorische Bewegungen wären in einer künftigen vergleichenden Betrachtung noch viel stärker zu untersuchen, um das Spannungsfeld von Geschichte, Kunst und Politik in der deutschen Nachkriegsgeschichte besser zu begreifen. Das könnte uns helfen, die Bedeutung von Konflikten wie auch des Zusammenspiels zwischen ästhetischen, historischen und politischen Urteilen, die gegenwärtig in der Öffentlichkeit so wichtig sind, besser zu verstehen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.
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