„Der Anti­se­mi­tis­mus-Vor­wurf wurde instrumentalisiert“

Phil­ippe Pirotte im Gespräch

Phil­ippe Pirotte war Mit­glied in der Fin­dungs­kom­mis­sion der docu­menta fif­teen und hat ruan­grupa als Kura­to­ren für die docu­menta mit aus­ge­wählt. Der frü­here Lei­ter der Frank­fur­ter Stä­del­schule kri­ti­siert im Gespräch mit Lud­wig Gre­ven die Reak­tio­nen deut­scher Medien und Poli­ti­ker. Und ver­tei­digt das Kon­zept der Kunstschau.

Lud­wig Gre­ven: Sie gehör­ten der inter­na­tio­na­len Kom­mis­sion an, die ruan­grupa Anfang 2019 als Kura­to­ren für die docu­menta fif­teen aus­ge­sucht hat. Wes­halb gerade diese Künst­ler­gruppe aus Indonesien?
Phil­ippe Pirotte: Uns war klar, dass die docu­menta nicht irgend­eine Kunst­schau ist, son­dern dass sie reflek­tie­ren muss, wie über Kunst gedacht und wie sie gemacht wird. Dazu gehört es zu wagen, über sie in einer ganz ande­ren Weise nach­zu­den­ken. Schon frü­here docu­men­ten haben den Kunst­be­griff erwei­tert. Der inter­na­tio­nale Kunst­markt wird heute sehr stark von kapi­ta­lis­ti­scher Spe­ku­la­tion geprägt. Wir haben über­legt, was macht Kunst für die Gesell­schaft aus, was trägt sie zu unse­rem Zusam­men­le­ben bei? Uns war wich­tig nach einem Umgang mit Kunst zu schauen, der expe­ri­men­tiert mit dem Ein­be­zie­hen ver­schie­de­ner Com­mu­ni­ties. Wir haben dar­über mit ver­schie­de­nen mög­li­chen Kura­to­ren gespro­chen. Am Ende kris­tal­li­sierte sich her­aus, dass ruan­grupa aus unse­rer Sicht im Moment die inter­es­san­tes­ten Ant­wor­ten dar­auf vor­ge­schla­gen hat. Es mag sein, dass sie in Europa nicht beson­ders bekannt waren. Glo­bal gese­hen sind sie in bestimm­ten Netz­wer­ken sehr bekannt. Dazu kam, dass noch nie eine Künst­ler­gruppe aus Süd­ost­asien die docu­menta kura­tiert hat, trotz einer diver­sen, sehr akti­ven Kunstwelt.

Ruan­grupa hatte also für Sie das über­zeu­gendste Konzept?
Sie haben uns nicht mit einem Kon­zept über­zeugt, son­dern mit ihrer Arbeits­me­thode, im Aus­tausch mit ande­ren Künst­ler­grup­pen und poli­ti­schen Akti­vis­ten. Weg von dem Sys­tem der Kunst­stars, der indi­vi­du­el­len Heroen, dem gro­ßen finan­zi­el­len Erfolg.

Ruan­grupa hat eine Reihe von Künst­ler­kol­lek­ti­ven ein­ge­la­den, ohne Vor­ga­ben und Kon­trolle. Geht damit nicht eine ver­bin­dende Idee ver­lo­ren, die nor­ma­ler­weise eine Kunst­schau aus­macht, und auch die Ver­ant­wor­tung der Kura­to­ren und der Leitung?
Für Deut­sche ist es schwer vor­stell­bar, dass etwas ohne Kon­trolle und Hier­ar­chie funk­tio­niert. In Indo­ne­sien gibt es eine lange Tra­di­tion, ohne Über- und Unter­ord­nung zusam­men­zu­ar­bei­ten, um Dinge zusam­men­zu­tra­gen. Das gibt es auch in ande­ren Welt­ge­gen­den. Das bedeu­tet eine andere Art des Ver­trau­ens, um etwas aus­zu­han­deln. Das ist auch eine wich­tige Frage an die Kunst: Wie kön­nen wir unser Leben orga­ni­sie­ren ohne Super­struk­tu­ren? Rund um das „lumbung“-System in Indo­ne­sien besteht eine Form von Basis­de­mo­kra­tie. Jeder kann mit­re­den, jede hat die Mög­lich­keit, gehört zu wer­den, ohne Vor­ga­ben von oben. Die ganze Gemein­schaft trägt Ver­ant­wor­tung. Bei den Besu­chern der docu­menta kommt das sehr gut an. Es gibt einen rie­si­gen Andrang bei den Ver­an­stal­tun­gen, Hap­pe­nings und Dis­kus­sio­nen, die Stim­mung ist fan­tas­tisch. Man sollte die docu­menta nicht auf ein Thema redu­zie­ren. Das spielt in Kas­sel kaum eine Rolle, nur in den Medien und der Poli­tik. Diese docu­menta ist ein Expe­ri­ment, wie Dinge anders pas­sie­ren können.

Die docu­menta fif­teen wird jedoch von den Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fen über­schat­tet und wohl für lange Zeit damit ver­bun­den blei­ben. Ruan­grupa ste­hen als Ver­ant­wort­li­che hef­tig in der Kri­tik, Gene­ral­di­rek­to­rin Sabine Schor­mann musste zurück­tre­ten. Ist
das Expe­ri­ment gescheitert?
Man­che Medien und Poli­ti­ker wol­len die Anti­se­mi­tis­mus­frage zu einem abso­lu­ten Pro­blem der docu­menta machen. Ich will es kei­nes­wegs rela­ti­vie­ren, aber vie­les hängt von der jewei­li­gen Per­spek­tive und dem Kon­text ab. Dar­über muss man reden kön­nen. Doch das pas­siert in den deut­schen Medien und der Poli­tik kaum. Ruan­grupa und das künst­le­ri­sche Team hat­ten eine Dis­kus­sion vor­ge­schla­gen, nach­dem eini­gen Mit­glie­dern der Gruppe Nähe zur BDS-Bewe­gung vor­ge­wor­fen wor­den war, aber das wurde sabo­tiert. Im Nach­hin­ein wurde dann von den Gesell­schaf­tern, unter Druck von Poli­tik und Medien, zur Dis­kus­sion gedrängt. Wieso hat man die von der künst­le­ri­schen Lei­tung vor­ge­schla­gene Dis­kus­sion ver­wei­gert? Es scheint unmög­lich, eine gemein­same Basis für eine sol­che Dis­kus­sion zu finden.

Wieso?
Das Pro­blem ist, wer die Grund­la­gen bestimmt. Ruan­grupa wird die ganze Zeit auf­ge­for­dert, Stel­lung zu bezie­hen zu Posi­tio­nen, die andere vor­ge­ben. Das akzep­tie­ren sie nicht. Und das ist auch nicht akzep­ta­bel. Doch die docu­menta ist nicht geschei­tert. Es ist sehr trau­rig, dass das pas­siert ist, für alle Betei­lig­ten. Aber das ist kein spe­zi­fi­sches Pro­blem der docu­menta. Die Anti­se­mi­tis­mus­de­batte ist viel grö­ßer. Auch das Goe­the-Insti­tut und andere Insti­tu­tio­nen sind kri­ti­siert wor­den, weil sie bestimmte Gäste ein­ge­la­den haben. Es ist eine Art neuer Kul­tur­streit. Man kann es nicht dar­auf redu­zie­ren, allein die docu­menta-Lei­tung ver­ant­wort­lich zu machen. Das ist ein deut­sches Problem.

Sie mei­nen also, es hängt vom jewei­li­gen kul­tu­rel­len Rah­men und poli­ti­schen Stand­punkt ab, ob man etwas als anti­se­mi­tisch betrachtet?
Das habe ich nicht gesagt. Aber die Anti­se­mi­tis­mus­de­batte ist sehr divers. In israe­li­schen Medien gibt es Arti­kel über die docu­menta, die wesent­lich weni­ger hart sind als in deut­schen. Man­che jüdi­sche Kol­le­gen sehen das alles gelas­se­ner. Der Vor­wurf des Anti­se­mi­tis­mus wurde instrumentalisiert.

Von wem?
Von bestimm­ten Grup­pen, die in die­ser Debatte die Über­macht haben wol­len. In Deutsch­land wird ver­sucht durch­zu­set­zen, dass Kri­tik an Israel
anti­se­mi­tisch ist. Selbst jüdi­sche Intel­lek­tu­elle, die Israel kri­ti­sie­ren, wer­den in Deutsch­land hart ange­gan­gen. Für mich wie für viele andere ist Kri­tik an der israe­li­schen Poli­tik jedoch nicht anti­se­mi­tisch. Aber ich will mich als Aus­län­der da nicht zu sehr ein­mi­schen. Und noch ein­mal: Die­ses Thema ist nur ein Aspekt eines gigan­ti­schen Pro­jekts. Die docu­menta fif­teen ist ein rie­si­ges Par­la­ment, in dem ganz ver­schie­dene Stim­men zum Aus­druck kommen.

Aber in Deutsch­land, dem Land der Täter, die sechs Mil­lio­nen Juden Euro­pas und ihre Kul­tur aus­ge­löscht haben, gibt es da nun mal aus gutem Grund eine beson­dere Sensibilität.
Ich habe lange in Deutsch­land gear­bei­tet, aber ich bin Bel­gier. Wir Bel­gier haben eine beson­dere Ver­ant­wor­tung für Mil­lio­nen Kon­go­le­sen, die in der bel­gi­schen Kolo­ni­al­zeit getö­tet wur­den und gelit­ten haben. Ich glaube, man kann die Debatte nicht getrennt sehen vom Post­ko­lo­nia­lis­mus, auch in Deutsch­land, wo die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung der Kolo­ni­al­zeit immer dem Holo­caust unter­ge­ord­net wird.

Kann man das wirk­lich ver­glei­chen? Die Shoah war ein Kul­tur­bruch, ein ein­ma­li­ges Mensch­heits­ver­bre­chen. Deutsch­land hat daher auch eine beson­dere Ver­ant­wor­tung für Israel.
Das möchte ich nicht beur­tei­len. Aber als Kunst­his­to­ri­ker glaube ich, dass Bil­der nie ein­deu­tig sind. Sie sind immer kom­plex, sie haben ver­schie­dene Ebe­nen. Das gilt auch für die ange­grif­fe­nen Werke in Kas­sel. Es kommt wie gesagt auf den Kon­text an.

Auf dem Pla­kat des indo­ne­si­schen Kol­lek­tivs Taring Padi, das den Skan­dal zur Eröff­nung der docu­menta aus­löste, ist ein häss­li­cher haken­na­si­ger Jude mit SS-Runen abge­bil­det. Was ist daran mehr­deu­tig und nicht ein­deu­tig antisemitisch?
Ich bin Kunst­his­to­ri­ker, kein Anti­se­mi­tis­mus­experte. Ich bin gerade in Indo­ne­sien. Viele hier dar­ge­stellte Figu­ren in der uralten Wayang-Kulit-Tra­di­tion haben auch Haken­na­sen, rote Augen und Vam­pir­zähne. Das Bildar­se­nal, auf das sich die Mit­glie­der von Taring Padi beru­fen, ist viel dif­fe­ren­zier­ter als das, was aus Europa impor­tiert wor­den ist. Es geht immer darum, was mit einem Bild aus­ge­drückt wer­den soll. Auf dem 20 Jahre alten Pla­kat von Taring Padi wer­den Kapi­ta­lis­ten kri­ti­siert und die Unter­stüt­zung Isra­els für das mör­de­ri­sche Suharto-Regime. Die Inten­tion ist kei­nes­falls antisemitisch.

Das Pla­kat wurde nach der hef­ti­gen Kri­tik abge­hängt. Soll­ten auch andere Werke ent­fernt werden,
die zumin­dest auf einige Betrach­ter anti­se­mi­tisch wirken?
Ich bin gegen Zen­sur. Denn wenn man damit ein­mal anfängt, hört es nie auf.

Post­ko­lo­nia­lis­ten und Anti­ras­sis­ten sagen, nur die Opfer kön­nen ent­schei­den, wann und wodurch sie sich dis­kri­mi­niert füh­len. Viele Juden füh­len sich von dem Pla­kat und ande­ren auf der docu­menta gezeig­ten Wer­ken her­ab­ge­wür­digt und ange­grif­fen. Reicht das nicht?
Dafür haben Taring Padi und ruan­grupa sich mehr­mals ent­schul­digt. Aber von den deut­schen Medien und der Poli­tik gab es eine kate­go­ri­sche Ver­wei­ge­rung. Hätte die künst­le­ri­sche Lei­tung bes­ser auf sehr deut­sche Art sagen sol­len: „Wir bit­ten um Ver­ständ­nis“? Wir müs­sen weg von der Gegen­über­stel­lung von Anti­ko­lo­nia­lis­mus und Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus. Das been­det jede frucht­bare Debatte.

Bei der docu­menta wird die Dis­kus­sion in den Medien nur von der einen Seite domi­niert. Es wird bei­spiels­weise total igno­riert, dass es im Vor­feld der docu­menta und bis heute ein Isla­mo­pho­bie-Framing gibt, dass es Angriffe und Van­da­lis­mus gegen que­ere und paläs­ti­nen­si­sche Künst­ler gab.

Die docu­menta gehört nicht den Obses­sio­nen der deut­schen Poli­tik. In Wahr­heit gehört sie den Künst­lern und den Besu­chern. Beide sind lokal und glo­bal. Was die docu­menta bedeu­tet und wel­che Wir­kung sie hat, kann des­halb nicht nur von deut­schen Medien, und sicher nicht von Poli­ti­kern bestimmt werden.

Glau­ben Sie, dass man sich bei gro­ßen Kunst­schauen nach die­sen Erfah­run­gen noch ein­mal trauen wird, eine Künst­ler­gruppe aus dem „Glo­ba­len Süden“ als Kura­to­ren zu berufen?
Das wäre klein­lich und ein Ver­lust für die deut­sche Kul­tur­land­schaft. Aber es wird immer spe­zi­fi­sche Ent­schei­dun­gen geben. Diese docu­menta hat Dinge grund­le­gend geän­dert. Sie hat gezeigt, dass es eine andere Art der Arbeit in vie­len künst­le­ri­schen Gemein­schaf­ten auf der Welt gibt. Das ist eine Her­aus­for­de­rung, für die bis­her vom Nor­den domi­nierte inter­na­tio­nale Kunst­welt. Die wirk­li­chen Fol­gen der docu­menta fif­teen wird man erst spä­ter sehen.

Vie­len Dank.

Die­ses Inter­view ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.
Von |2023-03-02T15:18:22+01:00September 5th, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

„Der Anti­se­mi­tis­mus-Vor­wurf wurde instrumentalisiert“

Phil­ippe Pirotte im Gespräch

Philippe Pirotte war bis 2020 Rektor der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule in Frankfurt am Main. Zurzeit bereitet er in Indonesien ein Ausstellungsprojekt vor. Ludwig Greven ist Publizist.