Philippe Pirotte & Ludwig Greven 5. September 2022 Logo_Initiative_print.png

„Der Anti­se­mi­tis­mus-Vor­wurf wurde instrumentalisiert“

Phil­ippe Pirotte im Gespräch

Philippe Pirotte war Mitglied in der Findungskommission der documenta fifteen und hat ruangrupa als Kuratoren für die documenta mit ausgewählt. Der frühere Leiter der Frankfurter Städelschule kritisiert im Gespräch mit Ludwig Greven die Reaktionen deutscher Medien und Politiker. Und verteidigt das Konzept der Kunstschau.

Ludwig Greven: Sie gehörten der internationalen Kommission an, die ruangrupa Anfang 2019 als Kuratoren für die documenta fifteen ausgesucht hat. Weshalb gerade diese Künstlergruppe aus Indonesien?
Philippe Pirotte: Uns war klar, dass die documenta nicht irgendeine Kunstschau ist, sondern dass sie reflektieren muss, wie über Kunst gedacht und wie sie gemacht wird. Dazu gehört es zu wagen, über sie in einer ganz anderen Weise nachzudenken. Schon frühere documenten haben den Kunstbegriff erweitert. Der internationale Kunstmarkt wird heute sehr stark von kapitalistischer Spekulation geprägt. Wir haben überlegt, was macht Kunst für die Gesellschaft aus, was trägt sie zu unserem Zusammenleben bei? Uns war wichtig nach einem Umgang mit Kunst zu schauen, der experimentiert mit dem Einbeziehen verschiedener Communities. Wir haben darüber mit verschiedenen möglichen Kuratoren gesprochen. Am Ende kristallisierte sich heraus, dass ruangrupa aus unserer Sicht im Moment die interessantesten Antworten darauf vorgeschlagen hat. Es mag sein, dass sie in Europa nicht besonders bekannt waren. Global gesehen sind sie in bestimmten Netzwerken sehr bekannt. Dazu kam, dass noch nie eine Künstlergruppe aus Südostasien die documenta kuratiert hat, trotz einer diversen, sehr aktiven Kunstwelt.

Ruangrupa hatte also für Sie das überzeugendste Konzept?
Sie haben uns nicht mit einem Konzept überzeugt, sondern mit ihrer Arbeitsmethode, im Austausch mit anderen Künstlergruppen und politischen Aktivisten. Weg von dem System der Kunststars, der individuellen Heroen, dem großen finanziellen Erfolg.

Ruangrupa hat eine Reihe von Künstlerkollektiven eingeladen, ohne Vorgaben und Kontrolle. Geht damit nicht eine verbindende Idee verloren, die normalerweise eine Kunstschau ausmacht, und auch die Verantwortung der Kuratoren und der Leitung?
Für Deutsche ist es schwer vorstellbar, dass etwas ohne Kontrolle und Hierarchie funktioniert. In Indonesien gibt es eine lange Tradition, ohne Über- und Unterordnung zusammenzuarbeiten, um Dinge zusammenzutragen. Das gibt es auch in anderen Weltgegenden. Das bedeutet eine andere Art des Vertrauens, um etwas auszuhandeln. Das ist auch eine wichtige Frage an die Kunst: Wie können wir unser Leben organisieren ohne Superstrukturen? Rund um das „lumbung“-System in Indonesien besteht eine Form von Basisdemokratie. Jeder kann mitreden, jede hat die Möglichkeit, gehört zu werden, ohne Vorgaben von oben. Die ganze Gemeinschaft trägt Verantwortung. Bei den Besuchern der documenta kommt das sehr gut an. Es gibt einen riesigen Andrang bei den Veranstaltungen, Happenings und Diskussionen, die Stimmung ist fantastisch. Man sollte die documenta nicht auf ein Thema reduzieren. Das spielt in Kassel kaum eine Rolle, nur in den Medien und der Politik. Diese documenta ist ein Experiment, wie Dinge anders passieren können.

Die documenta fifteen wird jedoch von den Antisemitismusvorwürfen überschattet und wohl für lange Zeit damit verbunden bleiben. Ruangrupa stehen als Verantwortliche heftig in der Kritik, Generaldirektorin Sabine Schormann musste zurücktreten. Ist
das Experiment gescheitert?
Manche Medien und Politiker wollen die Antisemitismusfrage zu einem absoluten Problem der documenta machen. Ich will es keineswegs relativieren, aber vieles hängt von der jeweiligen Perspektive und dem Kontext ab. Darüber muss man reden können. Doch das passiert in den deutschen Medien und der Politik kaum. Ruangrupa und das künstlerische Team hatten eine Diskussion vorgeschlagen, nachdem einigen Mitgliedern der Gruppe Nähe zur BDS-Bewegung vorgeworfen worden war, aber das wurde sabotiert. Im Nachhinein wurde dann von den Gesellschaftern, unter Druck von Politik und Medien, zur Diskussion gedrängt. Wieso hat man die von der künstlerischen Leitung vorgeschlagene Diskussion verweigert? Es scheint unmöglich, eine gemeinsame Basis für eine solche Diskussion zu finden.

Wieso?
Das Problem ist, wer die Grundlagen bestimmt. Ruangrupa wird die ganze Zeit aufgefordert, Stellung zu beziehen zu Positionen, die andere vorgeben. Das akzeptieren sie nicht. Und das ist auch nicht akzeptabel. Doch die documenta ist nicht gescheitert. Es ist sehr traurig, dass das passiert ist, für alle Beteiligten. Aber das ist kein spezifisches Problem der documenta. Die Antisemitismusdebatte ist viel größer. Auch das Goethe-Institut und andere Institutionen sind kritisiert worden, weil sie bestimmte Gäste eingeladen haben. Es ist eine Art neuer Kulturstreit. Man kann es nicht darauf reduzieren, allein die documenta-Leitung verantwortlich zu machen. Das ist ein deutsches Problem.

Sie meinen also, es hängt vom jeweiligen kulturellen Rahmen und politischen Standpunkt ab, ob man etwas als antisemitisch betrachtet?
Das habe ich nicht gesagt. Aber die Antisemitismusdebatte ist sehr divers. In israelischen Medien gibt es Artikel über die documenta, die wesentlich weniger hart sind als in deutschen. Manche jüdische Kollegen sehen das alles gelassener. Der Vorwurf des Antisemitismus wurde instrumentalisiert.

Von wem?
Von bestimmten Gruppen, die in dieser Debatte die Übermacht haben wollen. In Deutschland wird versucht durchzusetzen, dass Kritik an Israel
antisemitisch ist. Selbst jüdische Intellektuelle, die Israel kritisieren, werden in Deutschland hart angegangen. Für mich wie für viele andere ist Kritik an der israelischen Politik jedoch nicht antisemitisch. Aber ich will mich als Ausländer da nicht zu sehr einmischen. Und noch einmal: Dieses Thema ist nur ein Aspekt eines gigantischen Projekts. Die documenta fifteen ist ein riesiges Parlament, in dem ganz verschiedene Stimmen zum Ausdruck kommen.

Aber in Deutschland, dem Land der Täter, die sechs Millionen Juden Europas und ihre Kultur ausgelöscht haben, gibt es da nun mal aus gutem Grund eine besondere Sensibilität.
Ich habe lange in Deutschland gearbeitet, aber ich bin Belgier. Wir Belgier haben eine besondere Verantwortung für Millionen Kongolesen, die in der belgischen Kolonialzeit getötet wurden und gelitten haben. Ich glaube, man kann die Debatte nicht getrennt sehen vom Postkolonialismus, auch in Deutschland, wo die Vergangenheitsbewältigung der Kolonialzeit immer dem Holocaust untergeordnet wird.

Kann man das wirklich vergleichen? Die Shoah war ein Kulturbruch, ein einmaliges Menschheitsverbrechen. Deutschland hat daher auch eine besondere Verantwortung für Israel.
Das möchte ich nicht beurteilen. Aber als Kunsthistoriker glaube ich, dass Bilder nie eindeutig sind. Sie sind immer komplex, sie haben verschiedene Ebenen. Das gilt auch für die angegriffenen Werke in Kassel. Es kommt wie gesagt auf den Kontext an.

Auf dem Plakat des indonesischen Kollektivs Taring Padi, das den Skandal zur Eröffnung der documenta auslöste, ist ein hässlicher hakennasiger Jude mit SS-Runen abgebildet. Was ist daran mehrdeutig und nicht eindeutig antisemitisch?
Ich bin Kunsthistoriker, kein Antisemitismusexperte. Ich bin gerade in Indonesien. Viele hier dargestellte Figuren in der uralten Wayang-Kulit-Tradition haben auch Hakennasen, rote Augen und Vampirzähne. Das Bildarsenal, auf das sich die Mitglieder von Taring Padi berufen, ist viel differenzierter als das, was aus Europa importiert worden ist. Es geht immer darum, was mit einem Bild ausgedrückt werden soll. Auf dem 20 Jahre alten Plakat von Taring Padi werden Kapitalisten kritisiert und die Unterstützung Israels für das mörderische Suharto-Regime. Die Intention ist keinesfalls antisemitisch.

Das Plakat wurde nach der heftigen Kritik abgehängt. Sollten auch andere Werke entfernt werden,
die zumindest auf einige Betrachter antisemitisch wirken?
Ich bin gegen Zensur. Denn wenn man damit einmal anfängt, hört es nie auf.

Postkolonialisten und Antirassisten sagen, nur die Opfer können entscheiden, wann und wodurch sie sich diskriminiert fühlen. Viele Juden fühlen sich von dem Plakat und anderen auf der documenta gezeigten Werken herabgewürdigt und angegriffen. Reicht das nicht?
Dafür haben Taring Padi und ruangrupa sich mehrmals entschuldigt. Aber von den deutschen Medien und der Politik gab es eine kategorische Verweigerung. Hätte die künstlerische Leitung besser auf sehr deutsche Art sagen sollen: „Wir bitten um Verständnis“? Wir müssen weg von der Gegenüberstellung von Antikolonialismus und Kampf gegen Antisemitismus. Das beendet jede fruchtbare Debatte.

Bei der documenta wird die Diskussion in den Medien nur von der einen Seite dominiert. Es wird beispielsweise total ignoriert, dass es im Vorfeld der documenta und bis heute ein Islamophobie-Framing gibt, dass es Angriffe und Vandalismus gegen queere und palästinensische Künstler gab.

Die documenta gehört nicht den Obsessionen der deutschen Politik. In Wahrheit gehört sie den Künstlern und den Besuchern. Beide sind lokal und global. Was die documenta bedeutet und welche Wirkung sie hat, kann deshalb nicht nur von deutschen Medien, und sicher nicht von Politikern bestimmt werden.

Glauben Sie, dass man sich bei großen Kunstschauen nach diesen Erfahrungen noch einmal trauen wird, eine Künstlergruppe aus dem „Globalen Süden“ als Kuratoren zu berufen?
Das wäre kleinlich und ein Verlust für die deutsche Kulturlandschaft. Aber es wird immer spezifische Entscheidungen geben. Diese documenta hat Dinge grundlegend geändert. Sie hat gezeigt, dass es eine andere Art der Arbeit in vielen künstlerischen Gemeinschaften auf der Welt gibt. Das ist eine Herausforderung, für die bisher vom Norden dominierte internationale Kunstwelt. Die wirklichen Folgen der documenta fifteen wird man erst später sehen.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.
Copyright: Alle Rechte bei Initiative kulturelle Integration

Adresse: https://www.kulturelle-integration.de/2022/09/05/der-antisemitismus-vorwurf-wurde-instrumentalisiert/