„Woke“

Wovon wacht man auf?

Es ist selt­sam, wie wenig über den Sinn aus­ge­rech­net der­je­ni­gen Wör­ter nach­ge­dacht wird, die gerade in aller Munde sind, z. B. „woke“. Alle reden dar­über. Man­che sind sehr dafür, andere strikt dage­gen. Aber was ist mit die­sem Wort eigent­lich bezeich­net, wo kommt es her? Ganz schlicht über­setzt, meint es „geweckt“. Setzt man ein „I“ davor, heißt es: „Ich bin auf­ge­wacht“. In unmit­tel­ba­rer Nähe zu ihm befin­det sich „awa­ken“ oder das sel­te­nere „awa­kened“, das aller­dings schon in eine andere Rich­tung zielt: „aufgeweckt/erweckt“, „ich wurde aufgeweckt/erweckt“. Schon ist man bei einem der bedeut­sams­ten Begriffe der pro­tes­tan­ti­schen Fröm­mig­keits­ge­schichte, dem „awa­ke­ning“ – zu Deutsch der „Erwe­ckung“. Im nor­ma­len eng­li­schen bzw. deut­schen Sprach­ge­brauch tau­chen beide Zen­tral­be­griffe heute jedoch nicht mehr auf. Doch jetzt, mit der Kon­junk­tur von „woke“, sollte sich das ändern. Denn auch wenn es keine direk­ten Abhän­gig­kei­ten gibt – Sprach­ge­schichte folgt nie ein­fa­chen Ursa­che-Wir­kung-Ket­ten –, so las­sen sich zwi­schen „woke“ und „awa­kened“ einige auf­schluss­rei­che Ver­bin­dun­gen auf­zei­gen. Auch in der ver­meint­lich säku­la­ren Gegen­wart lohnt es sich, aktu­elle Lieb­lings­be­griffe auf ver­ges­sene reli­giöse Hin­ter­gründe hin zu untersuchen.

„Woke“ wurde mit der „Black Lives Matter“-Bewegung zu einer welt­weit gebräuch­li­chen Selbst- und Fremd­be­zeich­nung. Wie das genau geschah, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.
Es scheint einen Bezug zu Mar­cus Gar­vey, dem afro­ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­recht­ler und pan­afri­ka­ni­schen Natio­na­lis­ten, zu geben. Doch was ist damit gemeint? Wovon wacht man auf und was für ein Wach­sein ist gemeint? Mir scheint, dass man die­ses Wort nur ver­steht, wenn man sei­nen fröm­mig­keits­ge­schicht­li­chen Hin­ter­grund betrach­tet: die gro­ßen nord­ame­ri­ka­ni­schen „awa­ke­nings“ des 18. und 19. Jahr­hun­derts. Diese „revi­vals“ – man muss sie sich als reli­giöse Pan­de­mien vor­stel­len –, hat­ten ihre Ursprünge im euro­päi­schen Unter­grund- und Flücht­lings­pro­tes­tan­tis­mus. Jahr­zehnte der öku­me­ni­schen Ver­stän­di­gung haben die bru­ta­len Ver­fol­gun­gen pro­tes­tan­ti­scher Fran­zo­sen, Böh­men, Schle­sier im 18. Jahr­hun­dert durch aller­ka­tho­lischste Obrig­kei­ten ver­ges­sen las­sen. Aber damals war der Pro­tes­tan­tis­mus eben zu gro­ßen Tei­len eine unter­drückte Min­der­hei­ten­kon­fes­sion auf der Flucht. Auf die äußere Gewalt reagier­ten einige mit reli­giö­ser Begeis­te­rung. Men­schen wur­den dabei auf dop­pelte Weise erweckt: Sie wach­ten aus der „Nacht der Sünde“ auf und wur­den zu einem neuen Bewusst­sein erweckt, der inni­gen Gemein­schaft mit Chris­tus im Glau­ben. Das konn­ten sie nicht für sich behal­ten, daran muss­ten sie ande­ren Anteil geben.

Nicht Pfar­rer, son­dern ein­fa­che Män­ner und Frauen, häu­fig sogar Kin­der, schu­fen eine inter­na­tio­nale Bewe­gung. Es waren kleine Kreise von Erleuch­te­ten, aber sie ent­fal­te­ten eine unge­heure Wirk­sam­keit, bewirk­ten reli­giöse Auf­schwünge und soziale Auf­brü­che. Die Abschaf­fung der Skla­ve­rei bei­spiels­weise ist ihnen zu verdanken.

Ande­rer­seits lös­ten sie mit ihrer pene­tran­ten Über­zeugt­heit und über­kor­rek­ten Lebens­weise harte Kon­flikte aus. Das Estab­lish­ment fühlte sich von ihnen ange­grif­fen und bezich­tigte sie des Sek­tie­rer­tums und der ideo­lo­gi­schen Ver­bohrt­heit. In vie­len erschei­nen die „Woken“ von heute als säku­lare Nach­fol­ge­rin der damals „Erweck­ten“. Bemer­kens­wert ist, dass aus­ge­rech­net die eigent­li­chen Nach­fol­ger der „awa­ke­nings“, näm­lich die Evan­ge­li­ka­len in den USA, zum „war on woke“ gebla­sen haben. Das sollte man als Indiz dafür neh­men, dass die „Woken“ und die „Anti-Woken“ mit­ein­an­der enger ver­wandt sind, als sie sel­ber meinen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 03/2022.

Von |2022-03-24T10:29:59+01:00März 4th, 2022|Religiöse Vielfalt, Sprache|Kommentare deaktiviert für

„Woke“

Wovon wacht man auf?

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.