Johann Hinrich Claussen 4. März 2022 Logo_Initiative_print.png

„Woke“

Wovon wacht man auf?

Es ist seltsam, wie wenig über den Sinn ausgerechnet derjenigen Wörter nachgedacht wird, die gerade in aller Munde sind, z. B. „woke“. Alle reden darüber. Manche sind sehr dafür, andere strikt dagegen. Aber was ist mit diesem Wort eigentlich bezeichnet, wo kommt es her? Ganz schlicht übersetzt, meint es „geweckt“. Setzt man ein „I“ davor, heißt es: „Ich bin aufgewacht“. In unmittelbarer Nähe zu ihm befindet sich „awaken“ oder das seltenere „awakened“, das allerdings schon in eine andere Richtung zielt: „aufgeweckt/erweckt“, „ich wurde aufgeweckt/erweckt“. Schon ist man bei einem der bedeutsamsten Begriffe der protestantischen Frömmigkeitsgeschichte, dem „awakening“ – zu Deutsch der „Erweckung“. Im normalen englischen bzw. deutschen Sprachgebrauch tauchen beide Zentralbegriffe heute jedoch nicht mehr auf. Doch jetzt, mit der Konjunktur von „woke“, sollte sich das ändern. Denn auch wenn es keine direkten Abhängigkeiten gibt – Sprachgeschichte folgt nie einfachen Ursache-Wirkung-Ketten –, so lassen sich zwischen „woke“ und „awakened“ einige aufschlussreiche Verbindungen aufzeigen. Auch in der vermeintlich säkularen Gegenwart lohnt es sich, aktuelle Lieblingsbegriffe auf vergessene religiöse Hintergründe hin zu untersuchen.

„Woke“ wurde mit der „Black Lives Matter“-Bewegung zu einer weltweit gebräuchlichen Selbst- und Fremdbezeichnung. Wie das genau geschah, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.
Es scheint einen Bezug zu Marcus Garvey, dem afroamerikanischen Bürgerrechtler und panafrikanischen Nationalisten, zu geben. Doch was ist damit gemeint? Wovon wacht man auf und was für ein Wachsein ist gemeint? Mir scheint, dass man dieses Wort nur versteht, wenn man seinen frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund betrachtet: die großen nordamerikanischen „awakenings“ des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese „revivals“ – man muss sie sich als religiöse Pandemien vorstellen –, hatten ihre Ursprünge im europäischen Untergrund- und Flüchtlingsprotestantismus. Jahrzehnte der ökumenischen Verständigung haben die brutalen Verfolgungen protestantischer Franzosen, Böhmen, Schlesier im 18. Jahrhundert durch allerkatholischste Obrigkeiten vergessen lassen. Aber damals war der Protestantismus eben zu großen Teilen eine unterdrückte Minderheitenkonfession auf der Flucht. Auf die äußere Gewalt reagierten einige mit religiöser Begeisterung. Menschen wurden dabei auf doppelte Weise erweckt: Sie wachten aus der „Nacht der Sünde“ auf und wurden zu einem neuen Bewusstsein erweckt, der innigen Gemeinschaft mit Christus im Glauben. Das konnten sie nicht für sich behalten, daran mussten sie anderen Anteil geben.

Nicht Pfarrer, sondern einfache Männer und Frauen, häufig sogar Kinder, schufen eine internationale Bewegung. Es waren kleine Kreise von Erleuchteten, aber sie entfalteten eine ungeheure Wirksamkeit, bewirkten religiöse Aufschwünge und soziale Aufbrüche. Die Abschaffung der Sklaverei beispielsweise ist ihnen zu verdanken.

Andererseits lösten sie mit ihrer penetranten Überzeugtheit und überkorrekten Lebensweise harte Konflikte aus. Das Establishment fühlte sich von ihnen angegriffen und bezichtigte sie des Sektierertums und der ideologischen Verbohrtheit. In vielen erscheinen die „Woken“ von heute als säkulare Nachfolgerin der damals „Erweckten“. Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet die eigentlichen Nachfolger der „awakenings“, nämlich die Evangelikalen in den USA, zum „war on woke“ geblasen haben. Das sollte man als Indiz dafür nehmen, dass die „Woken“ und die „Anti-Woken“ miteinander enger verwandt sind, als sie selber meinen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2022.

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