Pio­nier­ta­ten

Vier Fra­gen an Irm­gard Merkt

Die Musik­päd­ago­gin Irm­gard Merkt zählt zu den Pio­nie­rin­nen im Bereich Musik und Inklu­sion. Über Jahr­zehnte prägt ihre Arbeit Men­schen mit und ohne Behin­de­run­gen. Für Poli­tik & Kul­tur beant­wor­tet sie vier Fra­gen zu Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft der Inklu­sion im Musikbereich.

Wel­che Erfah­run­gen haben Sie als Pio­nie­rin in der Inklu­si­ons­päd­ago­gik gemacht?
Die Pio­nier­zeit des The­men­fel­des Musik und Men­schen mit Behin­de­run­gen bzw. Musik und Inklu­sion war von drei Minus- und drei Plus­sät­zen beglei­tet. Die Minus­sätze: „Dafür sind wir nicht zustän­dig“, „Das gehört in den Bereich der Sozio­kul­tur“ und „Das ist doch Musik­the­ra­pie“. Die Plus­sätze: „Ich weiß zwar nicht, wie es geht, aber ich pro­biere es ein­mal“, „Das hätte ich nie gedacht“ und „Das ist ein­fach nur gut“.

Wel­che Situa­tio­nen haben Sie im Musik­be­reich zu Beginn vorgefunden?
Musik hat bis etwa 1980 in Ein­rich­tun­gen für Men­schen mit Behin­de­rung und Son­der­schu­len wenn, dann über­durch­schnitt­lich oft als Sin­gen statt­ge­fun­den. Im Kul­tur­le­ben „außer­halb“ kamen Men­schen mit Beein­träch­ti­gun­gen so gut wie nicht vor. An künst­le­ri­schen Hoch­schu­len war das Thema nicht wahr­nehm­bar. Inner­halb der Lehr­amts­stu­di­en­gänge war „Musik mit Behin­der­ten“ ein Orchi­deen­fach: Bun­des­weit ver­tra­ten in den 1980er und 1990er Jah­ren vier Pro­fes­su­ren die­ses Thema. Der Modell­ver­such „Instru­men­tal­spiel mit Behin­der­ten“ der Jahre 1979 bis 1983 von Wer­ner Probst an der Uni­ver­si­tät Dort­mund – er war einer der vier – hat gezeigt, dass Kin­der und Jugend­li­che an Son­der­schu­len natür­lich mit Erfolg die Musik­schule besu­chen kön­nen. Er zeigte ebenso, dass behin­der­ten­spe­zi­fi­sches und inklu­si­ves päd­ago­gi­sches Arbei­ten einer Aus- und Wei­ter­bil­dung bedarf. Die Impulse, die von die­sem Modell­ver­such und dem berufs­be­glei­ten­den Lehr­gang BLIMBAM immer noch aus­ge­hen, kön­nen nicht hoch genug geschätzt werden.

Wie ist die Situa­tion heute? Was hat sich getan?
Der Wert und die Bedeu­tung von Musik für das Leben von Men­schen mit Beein­träch­ti­gung wird zu kei­ner Zeit bestrit­ten. In der Pra­xis der Inte­gra­tion – so hieß jahr­zehn­te­lang das, was heute mit Inklu­sion gemeint ist – haben viele Pio­niere uner­müd­li­che Basis­ar­beit geleis­tet, die einer immer noch (zu) klei­nen, aber doch ste­tig anwach­sen­den Zahl von Men­schen mit Beein­träch­ti­gung die aktive Teil­habe am Musik­le­ben ermöglicht.

Die Rati­fi­zie­rung der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion durch die Bun­des­re­gie­rung im Jahr 2009 war, um musi­ka­lisch im Bild zu blei­ben, ein Pau­ken­schlag: „Die Ver­trags­staa­ten tref­fen geeig­nete Maß­nah­men, um Men­schen mit Behin­de­run­gen die Mög­lich­keit zu geben, ihr krea­ti­ves, künst­le­ri­sches und intel­lek­tu­el­les Poten­zial zu ent­fal­ten und zu nut­zen, nicht nur für sich selbst, son­dern auch zur Berei­che­rung der Gesell­schaft“. Teil­habe und Bar­rie­re­frei­heit auf allen Ebe­nen des kul­tu­rel­len Lebens als Men­schen­recht: Welch ein Paradigmenwechsel!

Ohne Pio­nier­ta­ten geht es immer noch nicht, aber sie meh­ren sich. Orches­ter wie das Mahler Cham­ber Orches­tra initi­iert als „lear­ning pro­ject“ das Ange­bot „Feel the Music“ für Kin­der und Jugend­li­che, die nicht oder nicht gut hören. Der Jazz­club Domicil in Dort­mund arbei­tet zusam­men mit Ensem­bles wie dem Tanz­orchester Paschulke, das aus dem „Dort­mun­der Modell: Musik“ her­vor­ge­gan­gen ist. Ebenso steigt die Zahl inter­dis­zi­pli­nä­rer Pro­jekte, Bei­spiele sind „I can be your trans­la­tor“ und „Un-Label“.

Musik und Inklu­sion bedeu­tet heute Brei­ten­bil­dung und künst­le­ri­sche Pro­fes­sio­na­li­tät. Mit der Tagung „Kul­tur braucht Inklu­sion – Inklu­sion braucht Kul­tur“ des Bun­des­be­hin­der­ten­be­auf­trag­ten Jür­gen Dusel und des Deut­schen Kul­tur­ra­tes am 22. Juni 2021 ist das Thema „oben“ ange­kom­men. Deut­lich wurde in die­sem Kon­text aber auch, dass noch viele Wege gegan­gen wer­den müs­sen, bis auch nur annä­hernde Teil­ha­be­ge­rech­tig­keit erreicht ist.

Wel­che Bedarfe sehen Sie in der Inklu­si­ons­päd­ago­gik im Musikbereich?
Jede künst­le­ri­sche Hoch­schule ver­an­kert das Thema Inklu­sion in allen, die Beto­nung liegt auf allen, Stu­di­en­gän­gen im Lehr­an­ge­bot! Am bes­ten über gemein­same Ver­an­stal­tun­gen von Men­schen mit Beein­träch­ti­gung und Stu­die­ren­den! Nicht nur die Hälfte der Musik­schu­len unter­rich­tet kom­pe­tent Men­schen mit Behin­de­run­gen jeden Alters! Die Kul­tur­stif­tun­gen des Bun­des und der Län­der sowie alle Pro­gramme kul­tu­rel­ler Bil­dung för­dern aktiv inklu­siv ori­en­tierte Pro­jekte! Men­schen mit Beein­träch­ti­gung wer­den in die Ver­ga­be­ju­rys beru­fen! Der Deut­sche Kul­tur­rat star­tet die Initia­tive Inklu­sion! In den Fach­aus­schüs­sen ist das Thema kom­pe­tent ver­tre­ten! Für den Deut­schen Musik­rat wird Inklu­sion ein musik­po­li­ti­sches Thema! Demo­kra­tie braucht Kul­tur – Kul­tur braucht Inklu­sion – Inklu­sion braucht Kul­tur – Kul­tur braucht Demo­kra­tie. Das ist die Richtung.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:03:33+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

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Vier Fra­gen an Irm­gard Merkt

Irmgard Merkt ist in Lehre und Forschung tätig. Von 1991 bis 2014 war sie Professorin für Musik in der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund.