Irmgard Merkt 2. September 2021 Logo_Initiative_print.png

Pio­nier­ta­ten

Vier Fra­gen an Irm­gard Merkt

Die Musikpädagogin Irmgard Merkt zählt zu den Pionierinnen im Bereich Musik und Inklusion. Über Jahrzehnte prägt ihre Arbeit Menschen mit und ohne Behinderungen. Für Politik & Kultur beantwortet sie vier Fragen zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Inklusion im Musikbereich.

Welche Erfahrungen haben Sie als Pionierin in der Inklusionspädagogik gemacht?
Die Pionierzeit des Themenfeldes Musik und Menschen mit Behinderungen bzw. Musik und Inklusion war von drei Minus- und drei Plussätzen begleitet. Die Minussätze: „Dafür sind wir nicht zuständig“, „Das gehört in den Bereich der Soziokultur“ und „Das ist doch Musiktherapie“. Die Plussätze: „Ich weiß zwar nicht, wie es geht, aber ich probiere es einmal“, „Das hätte ich nie gedacht“ und „Das ist einfach nur gut“.

Welche Situationen haben Sie im Musikbereich zu Beginn vorgefunden?
Musik hat bis etwa 1980 in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung und Sonderschulen wenn, dann überdurchschnittlich oft als Singen stattgefunden. Im Kulturleben „außerhalb“ kamen Menschen mit Beeinträchtigungen so gut wie nicht vor. An künstlerischen Hochschulen war das Thema nicht wahrnehmbar. Innerhalb der Lehramtsstudiengänge war „Musik mit Behinderten“ ein Orchideenfach: Bundesweit vertraten in den 1980er und 1990er Jahren vier Professuren dieses Thema. Der Modellversuch „Instrumentalspiel mit Behinderten“ der Jahre 1979 bis 1983 von Werner Probst an der Universität Dortmund – er war einer der vier – hat gezeigt, dass Kinder und Jugendliche an Sonderschulen natürlich mit Erfolg die Musikschule besuchen können. Er zeigte ebenso, dass behindertenspezifisches und inklusives pädagogisches Arbeiten einer Aus- und Weiterbildung bedarf. Die Impulse, die von diesem Modellversuch und dem berufsbegleitenden Lehrgang BLIMBAM immer noch ausgehen, können nicht hoch genug geschätzt werden.

Wie ist die Situation heute? Was hat sich getan?
Der Wert und die Bedeutung von Musik für das Leben von Menschen mit Beeinträchtigung wird zu keiner Zeit bestritten. In der Praxis der Integration – so hieß jahrzehntelang das, was heute mit Inklusion gemeint ist – haben viele Pioniere unermüdliche Basisarbeit geleistet, die einer immer noch (zu) kleinen, aber doch stetig anwachsenden Zahl von Menschen mit Beeinträchtigung die aktive Teilhabe am Musikleben ermöglicht.

Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesregierung im Jahr 2009 war, um musikalisch im Bild zu bleiben, ein Paukenschlag: „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft“. Teilhabe und Barrierefreiheit auf allen Ebenen des kulturellen Lebens als Menschenrecht: Welch ein Paradigmenwechsel!

Ohne Pioniertaten geht es immer noch nicht, aber sie mehren sich. Orchester wie das Mahler Chamber Orchestra initiiert als „learning project“ das Angebot „Feel the Music“ für Kinder und Jugendliche, die nicht oder nicht gut hören. Der Jazzclub Domicil in Dortmund arbeitet zusammen mit Ensembles wie dem Tanz­orchester Paschulke, das aus dem „Dortmunder Modell: Musik“ hervorgegangen ist. Ebenso steigt die Zahl interdisziplinärer Projekte, Beispiele sind „I can be your translator“ und „Un-Label“.

Musik und Inklusion bedeutet heute Breitenbildung und künstlerische Professionalität. Mit der Tagung „Kultur braucht Inklusion – Inklusion braucht Kultur“ des Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel und des Deutschen Kulturrates am 22. Juni 2021 ist das Thema „oben“ angekommen. Deutlich wurde in diesem Kontext aber auch, dass noch viele Wege gegangen werden müssen, bis auch nur annähernde Teilhabegerechtigkeit erreicht ist.

Welche Bedarfe sehen Sie in der Inklusionspädagogik im Musikbereich?
Jede künstlerische Hochschule verankert das Thema Inklusion in allen, die Betonung liegt auf allen, Studiengängen im Lehrangebot! Am besten über gemeinsame Veranstaltungen von Menschen mit Beeinträchtigung und Studierenden! Nicht nur die Hälfte der Musikschulen unterrichtet kompetent Menschen mit Behinderungen jeden Alters! Die Kulturstiftungen des Bundes und der Länder sowie alle Programme kultureller Bildung fördern aktiv inklusiv orientierte Projekte! Menschen mit Beeinträchtigung werden in die Vergabejurys berufen! Der Deutsche Kulturrat startet die Initiative Inklusion! In den Fachausschüssen ist das Thema kompetent vertreten! Für den Deutschen Musikrat wird Inklusion ein musikpolitisches Thema! Demokratie braucht Kultur – Kultur braucht Inklusion – Inklusion braucht Kultur – Kultur braucht Demokratie. Das ist die Richtung.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

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