Inklu­sion liegt im Kulturerbe

Par­ti­zi­pa­tiv gestal­tete Zugänge zu Kul­tur und Bildung

Die Kul­tur der Inklu­sion gehört zum geis­ti­gen Erbe der Wei­ma­rer Klas­sik. Denn die auf­ge­klär­ten Intel­lek­tu­el­len des klas­si­schen Wei­mars beschäf­tigte schon um 1800 die Frage, wer ein Recht auf Wis­sen habe und wie brei­tere Volks­schich­ten Zugang zu Bil­dung fin­den könn­ten. Damit senkte sich ein Sta­chel in die Selbst­wahr­neh­mung der feu­da­len Gesell­schaft. Der abso­lu­tis­ti­sche Klein­staat an der Ilm wurde zum Expe­ri­men­tier­feld – wenn schon nicht für revo­lu­tio­näre Gesell­schafts­ent­würfe, so doch für skan­da­li­sierte Locke­run­gen im Kas­ten­sys­tem des Feu­da­lis­mus. Her­zo­gin Anna Ama­lia öff­nete als eine der Ers­ten ihre kost­bare Biblio­thek auch für gewöhn­li­che Bür­ger, natur­ge­mäß noch nicht gleich­be­rech­tigt für Bür­ge­rin­nen. Carl August stürmte als 18-jäh­ri­ger Regent mit sei­nem neuen Freund Johann Wolf­gang von Goe­the durch die Fluss­auen, und bald dar­auf ent­stand hier ein eng­li­scher Land­schafts­gar­ten – ein öffent­li­cher Raum, in dem sich Adel und Volk auf „natür­li­che“ Weise begeg­nen konn­ten. Das schloss Her­zen für unge­wohnte soziale Emp­fin­dun­gen auf. Unser heu­ti­ger Begriff der kul­tu­rel­len Bil­dung wurde maß­geb­lich im Wei­mar der Spät­auf­klä­rung geprägt.

In der glo­bal ver­netz­ten Gegen­wart des 21. Jahr­hun­derts sind die Anfor­de­run­gen an krea­tiv wie par­ti­zi­pa­tiv gestal­tete Zugänge zu Kul­tur und Bil­dung für mög­lichst viele Men­schen heute ganz andere. Die Klas­sik Stif­tung Wei­mar, eine der kom­ple­xes­ten Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen der Bun­des­re­pu­blik mit rund 30 Gedächt­nis-, For­schungs- und Kunst­in­sti­tu­tio­nen unter einem Dach, sieht sich in der Ver­ant­wor­tung für eine im wei­tes­ten Sinn ange­legte Ver­mitt­lung. Wir betrach­ten Inklu­sion und Bar­rie­re­frei­heit nicht als ein Son­der­thema, son­dern als Moti­va­tion und Mit­tel eines gene­rel­len Kul­tur­wan­dels hin zur grund­sätz­li­chen Publi­kums- und Teil­ha­be­ori­en­tie­rung. Uns beschäf­tigt eine Viel­zahl von bau­li­chen, sozia­len, öko­no­mi­schen, sprach­li­chen und auch inhalt­li­chen Bar­rie­ren. Dabei neh­men wir nicht nur unsere Bau- und Gar­ten­denk­male in den Blick, son­dern auch Aus­stel­lun­gen und Publi­ka­tio­nen, Ver­an­stal­tungs­räume und Pro­gramm­an­ge­bote und nicht zuletzt die Pro­zesse und Ergeb­nisse unse­rer digi­ta­len Trans­for­ma­tion. Die Klas­sik Stif­tung Wei­mar ver­steht sich als ein Kata­ly­sa­tor für Inklusion.

Mehr­di­men­sio­na­li­tät statt Gleichmacherei

Bar­rie­re­frei­heit ist ein zen­tra­ler Aspekt der Inklu­sion. Sie darf aber nicht dar­auf redu­ziert wer­den. Wir selbst müs­sen uns fra­gen: Für wen und für wel­che Bedürf­nisse ent­wi­ckeln wir unsere Ange­bote? Wem blei­ben Zugänge aus wel­chen Grün­den ver­wehrt? Wel­che Lebens­wirk­lich­kei­ten und Men­schen wer­den reprä­sen­tiert und wel­che nicht? Die Gestal­tung der Inhalte steht im Zen­trum. Dabei geht es darum, bewusst mit diver­gen­ten Per­spek­ti­ven und Dif­fe­ren­zie­run­gen zu arbei­ten. Unter­schied­li­che Anfor­de­run­gen und Betrach­tungs­wei­sen gleich­be­rech­tigt neben­ein­an­der zu stel­len, hilft uns von ver­meint­lich ein­deu­ti­gen Stan­dards Abstand zu neh­men. Wir wol­len nicht nur die eine Ant­wort parat haben – Ein­di­men­sio­na­li­tät wird der Rea­li­tät nie gerecht, son­dern pro­vo­zie­ren lie­ber Fra­gen, regen Debat­ten an, zei­gen Alter­na­ti­ven auf. Ein kon­kre­tes Bei­spiel hier­für ist unser dies­jäh­ri­ges The­men­jahr „Neue Natur“. Mit ihm the­ma­ti­sie­ren wir die höchst aktu­elle Frage der Inter­de­pen­den­zen von Mensch und Natur. Die­ses Thema spie­len wir an ver­schie­de­nen Orten und auf ver­schie­de­nen Ebe­nen. So kön­nen Men­schen selbst ent­schei­den, wel­chen Zugang sie neh­men wol­len. Ob über die para­die­si­schen Gar­ten­denk­male oder die kon­tro­verse Dis­kurs­aus­stel­lung „Ich hasse die Natur“, durch pro­duk­tive Work­shops, ein The­men­re­gal in der Anna Ama­lia Biblio­thek oder unser Debat­ten­for­mat „Wei­ma­rer Kontroversen“.

Für viele Men­schen stel­len unsere Schlös­ser, Museen und Schau­räume selbst schon enorme Zugangs­bar­rie­ren dar. Sie wer­den von vie­len als exklu­sive Orte der aka­de­mi­schen Hoch­kul­tur wahr­ge­nom­men. Ohne Link zur eige­nen Lebens­wirk­lich­keit wird der Schritt über die Schwelle – auch wenn „Salve“ drauf­steht, viel zu oft zum Gang nach Canossa. Daher gehen wir die­ses Jahr mit unse­ren The­men ganz bewusst in den Außen­raum, quasi auf neu­tra­len Boden, kom­men unse­rem Publi­kum auf hal­bem Weg ent­ge­gen. Ein „Grü­nes Labor“ im Park an der Ilm ist Expe­ri­men­tal­raum, Ver­mitt­lungs­platt­form, Ver­an­stal­tungs­ter­rasse – auch für Initia­ti­ven und Insti­tu­tio­nen aus Stadt und Umge­bung –, Treff­punkt, Lounge zum Abhän­gen. Mit unse­rem „Grü­nen Labor mobil“ – gro­ßen Las­ten­fahr­rä­dern, die wie Pop-up-Stores funk­tio­nie­ren – sind wir direkt bei den Leu­ten im gesam­ten Stadt­ge­biet unter­wegs und bie­ten inter­ak­tive Zugänge zum Thema.

Bewusst­sein und Aus­tausch schaffen

Inklu­sion beginnt mit Selbst­re­fle­xion. Es gilt, Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren und Arbeits­pro­zesse kri­tisch zu hin­ter­fra­gen, eine Kul­tur der Koope­ra­tion und Ergeb­nis­er­zeu­gung zu schaf­fen, die auch nicht­aka­de­mi­sche, betriebs­fremde Her­an­ge­hens­wei­sen aus­drück­lich ein­lädt und imple­men­tiert. Nur so ist es mög­lich, neue For­mate und Zugänge zu erpro­ben, das enorme Poten­zial unse­rer Gäste- und Nut­zungs­viel­falt zu erschlie­ßen. Die Klas­sik Stif­tung Wei­mar ist ver­ant­wort­lich für die phy­si­schen und damit auch emo­tio­na­len und psy­chi­schen Rah­men­be­din­gun­gen, unter denen Men­schen mate­ri­el­les und geis­ti­ges Kul­tur­erbe erle­ben, nut­zen und wei­ter­ent­wi­ckeln kön­nen. Das setzt vor­aus, dass das Bewusst­sein über diverse Nut­zungs­be­dürf­nisse im Team aus­ge­prägt ist und ste­ter Ver­bes­se­rungs­wille zur kon­ti­nu­ier­li­chen Ver­voll­stän­di­gung von Maß­nah­men treibt.

Hier­für haben wir in den letz­ten Jah­ren ent­spre­chende Kom­pe­ten­zen bei Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern auf­ge­baut. Ein klei­nes Spe­zia­lis­tin­nen-Team über­nimmt inner­halb der Stif­tung und nach außen eine Kata­ly­sa­tor-Funk­tion und hilft, den Fokus auf Inklu­sion bei sehr ver­schie­de­nen Pro­jek­ten zu hal­ten. Netz­werk­ar­beit mit ande­ren Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen, z. B. im Rah­men des För­der­pro­jekts „Ver­bund Inklu­sion“, ermög­licht Erfah­rungs­aus­tausch und Eva­lua­tion. In den häu­fig sehr dyna­mi­schen Pla­nungs­pro­zes­sen inklu­die­ren wir bei Detail­fra­gen externe Fach­be­ra­tun­gen. Gleich­zei­tig ist uns ein zen­tra­les Anlie­gen, künf­tige Nut­ze­rin­nen und Nut­zer selbst in die Pro­zesse ein­zu­be­zie­hen. Test­work­shops mit Betrof­fe­nen­ver­bän­den bei der Pla­nung des Bau­haus Muse­ums führ­ten zur Kom­plett­über­ar­bei­tung der Aus­stel­lungs­gra­fik. Von der sub­stan­zi­ell ver­bes­ser­ten Erkenn- und Les­bar­keit der Aus­stel­lungs­texte pro­fi­tier­ten am Ende alle! Bei der Pla­nung der Aus­stel­lung „Van de Velde, Nietz­sche und die Moderne um 1900“ arbei­te­ten wir am Beginn der Vor­ent­wurfs­phase inten­siv mit Jugend­li­chen zusam­men. In ver­schie­de­nen Pla­nungs­work­shops mit Kura­to­rin­nen, Ver­mitt­le­rin­nen und Aus­stel­lungs­ge­stal­tern wur­den gemein­sam Ideen ent­wi­ckelt, wie die teils kom­ple­xen Inhalte auf­be­rei­tet und ver­mit­telt wer­den könn­ten. Sie bil­de­ten die Grund­lage für die Pla­nungs­ver­tie­fung, wur­den pro­fes­sio­na­li­siert und auf die Gesamt­ge­stal­tung der Aus­stel­lung über­tra­gen. Von allen Betei­lig­ten wurde die­ser Aus­tausch als gewinn­brin­gend bewertet.

Neue Zugänge erproben

Aktu­ell ver­än­dern sich durch digi­tale Kanäle die Zugänge zum Kul­tur­erbe enorm. Das bie­tet auch in Bezug auf Inklu­sion und Nut­zungs­viel­falt neue Chan­cen. Unsere aus­bau­fä­hige App „Wei­mar+“ ist ein gro­ßer Mög­lich­keits­raum, The­men mehr­di­men­sio­nal zu erzäh­len. Sie berei­tet Inhalte unse­rer Moderne-Museen auf, seit April 2021 führt sie auch durch den Park an der Ilm, in den nächs­ten Jah­ren fol­gen Dich­ter­häu­ser, Biblio­thek und der Stadt­raum Wei­mars. Wir bie­ten Rund­gänge in ein­fa­cher Spra­che oder mit audi­tiven Wege- und Objekt­be­schrei­bun­gen an, stel­len gleich­zei­tig mul­ti­me­dial Hin­ter­grund­wis­sen zur Ver­fü­gung und bie­ten spie­le­ri­sche Inter­ak­tio­nen an. Dem Prin­zip des „Design für Alle“ ver­pflich­tet, ent­wi­ckeln wir dabei über­ra­schende Ange­bote nicht nur für spe­zi­elle Ziel­grup­pen, son­dern expli­zit für mög­lichst viele Men­schen. Die App-Inhalte kön­nen von über­all abge­ru­fen wer­den und somit auch räum­li­che Bar­rie­ren kompensieren.

Gleich­zei­tig ent­wi­ckeln wir neue Ver­mitt­lungs­an­sätze expe­ri­men­tell wei­ter. Im Rah­men eines For­schungs­pro­jekts mit der Bau­haus Uni­ver­si­tät Wei­mar erpro­ben wir in den nächs­ten Jah­ren digi­tale inter­ak­tive Zugänge zu his­to­ri­schen Räu­men in Goe­thes Wohn­haus mit­tels Blen­ded-Rea­lity-Anwen­dun­gen. Ins­be­son­dere für unsere Dich­ter­häu­ser, wo schärfste Denk­mal­schutz-Anfor­de­run­gen Ver­mitt­lung und Zugäng­lich­keit oft­mals ein­schrän­ken, eröff­nen sich hier neue Chan­cen für eine umfas­sende Teil­habe am Kul­tur­erbe. In die­sem Sinne begreift die Klas­sik Stif­tung Wei­mar Inklu­sion als zen­tra­len Bestand­teil einer reflek­tier­ten und zukunfts­ori­en­tier­ten Arbeit für eine leben­dige Erinnerungskultur.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:01:39+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

Inklu­sion liegt im Kulturerbe

Par­ti­zi­pa­tiv gestal­tete Zugänge zu Kul­tur und Bildung

Ulrike Lorenz ist Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. Valerie Stephani ist Referentin für Inklusion und Publikumsorientierung der Klassik Stiftung Weimar.