Ulrike Lorenz & Valerie Stephani 2. September 2021 Logo_Initiative_print.png

Inklu­sion liegt im Kulturerbe

Par­ti­zi­pa­tiv gestal­tete Zugänge zu Kul­tur und Bildung

Die Kultur der Inklusion gehört zum geistigen Erbe der Weimarer Klassik. Denn die aufgeklärten Intellektuellen des klassischen Weimars beschäftigte schon um 1800 die Frage, wer ein Recht auf Wissen habe und wie breitere Volksschichten Zugang zu Bildung finden könnten. Damit senkte sich ein Stachel in die Selbstwahrnehmung der feudalen Gesellschaft. Der absolutistische Kleinstaat an der Ilm wurde zum Experimentierfeld – wenn schon nicht für revolutionäre Gesellschaftsentwürfe, so doch für skandalisierte Lockerungen im Kastensystem des Feudalismus. Herzogin Anna Amalia öffnete als eine der Ersten ihre kostbare Bibliothek auch für gewöhnliche Bürger, naturgemäß noch nicht gleichberechtigt für Bürgerinnen. Carl August stürmte als 18-jähriger Regent mit seinem neuen Freund Johann Wolfgang von Goethe durch die Flussauen, und bald darauf entstand hier ein englischer Landschaftsgarten – ein öffentlicher Raum, in dem sich Adel und Volk auf „natürliche“ Weise begegnen konnten. Das schloss Herzen für ungewohnte soziale Empfindungen auf. Unser heutiger Begriff der kulturellen Bildung wurde maßgeblich im Weimar der Spätaufklärung geprägt.

In der global vernetzten Gegenwart des 21. Jahrhunderts sind die Anforderungen an kreativ wie partizipativ gestaltete Zugänge zu Kultur und Bildung für möglichst viele Menschen heute ganz andere. Die Klassik Stiftung Weimar, eine der komplexesten Kulturinstitutionen der Bundesrepublik mit rund 30 Gedächtnis-, Forschungs- und Kunstinstitutionen unter einem Dach, sieht sich in der Verantwortung für eine im weitesten Sinn angelegte Vermittlung. Wir betrachten Inklusion und Barrierefreiheit nicht als ein Sonderthema, sondern als Motivation und Mittel eines generellen Kulturwandels hin zur grundsätzlichen Publikums- und Teilhabeorientierung. Uns beschäftigt eine Vielzahl von baulichen, sozialen, ökonomischen, sprachlichen und auch inhaltlichen Barrieren. Dabei nehmen wir nicht nur unsere Bau- und Gartendenkmale in den Blick, sondern auch Ausstellungen und Publikationen, Veranstaltungsräume und Programmangebote und nicht zuletzt die Prozesse und Ergebnisse unserer digitalen Transformation. Die Klassik Stiftung Weimar versteht sich als ein Katalysator für Inklusion.

Mehrdimensionalität statt Gleichmacherei

Barrierefreiheit ist ein zentraler Aspekt der Inklusion. Sie darf aber nicht darauf reduziert werden. Wir selbst müssen uns fragen: Für wen und für welche Bedürfnisse entwickeln wir unsere Angebote? Wem bleiben Zugänge aus welchen Gründen verwehrt? Welche Lebenswirklichkeiten und Menschen werden repräsentiert und welche nicht? Die Gestaltung der Inhalte steht im Zentrum. Dabei geht es darum, bewusst mit divergenten Perspektiven und Differenzierungen zu arbeiten. Unterschiedliche Anforderungen und Betrachtungsweisen gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, hilft uns von vermeintlich eindeutigen Standards Abstand zu nehmen. Wir wollen nicht nur die eine Antwort parat haben – Eindimensionalität wird der Realität nie gerecht, sondern provozieren lieber Fragen, regen Debatten an, zeigen Alternativen auf. Ein konkretes Beispiel hierfür ist unser diesjähriges Themenjahr „Neue Natur“. Mit ihm thematisieren wir die höchst aktuelle Frage der Interdependenzen von Mensch und Natur. Dieses Thema spielen wir an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Ebenen. So können Menschen selbst entscheiden, welchen Zugang sie nehmen wollen. Ob über die paradiesischen Gartendenkmale oder die kontroverse Diskursausstellung „Ich hasse die Natur“, durch produktive Workshops, ein Themenregal in der Anna Amalia Bibliothek oder unser Debattenformat „Weimarer Kontroversen“.

Für viele Menschen stellen unsere Schlösser, Museen und Schauräume selbst schon enorme Zugangsbarrieren dar. Sie werden von vielen als exklusive Orte der akademischen Hochkultur wahrgenommen. Ohne Link zur eigenen Lebenswirklichkeit wird der Schritt über die Schwelle – auch wenn „Salve“ draufsteht, viel zu oft zum Gang nach Canossa. Daher gehen wir dieses Jahr mit unseren Themen ganz bewusst in den Außenraum, quasi auf neutralen Boden, kommen unserem Publikum auf halbem Weg entgegen. Ein „Grünes Labor“ im Park an der Ilm ist Experimentalraum, Vermittlungsplattform, Veranstaltungsterrasse – auch für Initiativen und Institutionen aus Stadt und Umgebung –, Treffpunkt, Lounge zum Abhängen. Mit unserem „Grünen Labor mobil“ – großen Lastenfahrrädern, die wie Pop-up-Stores funktionieren – sind wir direkt bei den Leuten im gesamten Stadtgebiet unterwegs und bieten interaktive Zugänge zum Thema.

Bewusstsein und Austausch schaffen

Inklusion beginnt mit Selbstreflexion. Es gilt, Organisationsstrukturen und Arbeitsprozesse kritisch zu hinterfragen, eine Kultur der Kooperation und Ergebniserzeugung zu schaffen, die auch nichtakademische, betriebsfremde Herangehensweisen ausdrücklich einlädt und implementiert. Nur so ist es möglich, neue Formate und Zugänge zu erproben, das enorme Potenzial unserer Gäste- und Nutzungsvielfalt zu erschließen. Die Klassik Stiftung Weimar ist verantwortlich für die physischen und damit auch emotionalen und psychischen Rahmenbedingungen, unter denen Menschen materielles und geistiges Kulturerbe erleben, nutzen und weiterentwickeln können. Das setzt voraus, dass das Bewusstsein über diverse Nutzungsbedürfnisse im Team ausgeprägt ist und steter Verbesserungswille zur kontinuierlichen Vervollständigung von Maßnahmen treibt.

Hierfür haben wir in den letzten Jahren entsprechende Kompetenzen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgebaut. Ein kleines Spezialistinnen-Team übernimmt innerhalb der Stiftung und nach außen eine Katalysator-Funktion und hilft, den Fokus auf Inklusion bei sehr verschiedenen Projekten zu halten. Netzwerkarbeit mit anderen Kulturinstitutionen, z. B. im Rahmen des Förderprojekts „Verbund Inklusion“, ermöglicht Erfahrungsaustausch und Evaluation. In den häufig sehr dynamischen Planungsprozessen inkludieren wir bei Detailfragen externe Fachberatungen. Gleichzeitig ist uns ein zentrales Anliegen, künftige Nutzerinnen und Nutzer selbst in die Prozesse einzubeziehen. Testworkshops mit Betroffenenverbänden bei der Planung des Bauhaus Museums führten zur Komplettüberarbeitung der Ausstellungsgrafik. Von der substanziell verbesserten Erkenn- und Lesbarkeit der Ausstellungstexte profitierten am Ende alle! Bei der Planung der Ausstellung „Van de Velde, Nietzsche und die Moderne um 1900“ arbeiteten wir am Beginn der Vorentwurfsphase intensiv mit Jugendlichen zusammen. In verschiedenen Planungsworkshops mit Kuratorinnen, Vermittlerinnen und Ausstellungsgestaltern wurden gemeinsam Ideen entwickelt, wie die teils komplexen Inhalte aufbereitet und vermittelt werden könnten. Sie bildeten die Grundlage für die Planungsvertiefung, wurden professionalisiert und auf die Gesamtgestaltung der Ausstellung übertragen. Von allen Beteiligten wurde dieser Austausch als gewinnbringend bewertet.

Neue Zugänge erproben

Aktuell verändern sich durch digitale Kanäle die Zugänge zum Kulturerbe enorm. Das bietet auch in Bezug auf Inklusion und Nutzungsvielfalt neue Chancen. Unsere ausbaufähige App „Weimar+“ ist ein großer Möglichkeitsraum, Themen mehrdimensional zu erzählen. Sie bereitet Inhalte unserer Moderne-Museen auf, seit April 2021 führt sie auch durch den Park an der Ilm, in den nächsten Jahren folgen Dichterhäuser, Bibliothek und der Stadtraum Weimars. Wir bieten Rundgänge in einfacher Sprache oder mit auditiven Wege- und Objektbeschreibungen an, stellen gleichzeitig multimedial Hintergrundwissen zur Verfügung und bieten spielerische Interaktionen an. Dem Prinzip des „Design für Alle“ verpflichtet, entwickeln wir dabei überraschende Angebote nicht nur für spezielle Zielgruppen, sondern explizit für möglichst viele Menschen. Die App-Inhalte können von überall abgerufen werden und somit auch räumliche Barrieren kompensieren.

Gleichzeitig entwickeln wir neue Vermittlungsansätze experimentell weiter. Im Rahmen eines Forschungsprojekts mit der Bauhaus Universität Weimar erproben wir in den nächsten Jahren digitale interaktive Zugänge zu historischen Räumen in Goethes Wohnhaus mittels Blended-Reality-Anwendungen. Insbesondere für unsere Dichterhäuser, wo schärfste Denkmalschutz-Anforderungen Vermittlung und Zugänglichkeit oftmals einschränken, eröffnen sich hier neue Chancen für eine umfassende Teilhabe am Kulturerbe. In diesem Sinne begreift die Klassik Stiftung Weimar Inklusion als zentralen Bestandteil einer reflektierten und zukunftsorientierten Arbeit für eine lebendige Erinnerungskultur.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

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