Ein­sam­keit

Ehr­li­cher Dis­kurs über das Alleinsein

Inklu­sion und Exklu­sion haben viele Gesich­ter, unter ande­rem das eigene. In die­sem Früh­som­mer konnte ich das am eige­nen Leib erfah­ren, als ich an Krü­cken – halt, poli­tisch kor­rekt heißt es natür­lich: an Unter­arm­geh­stüt­zen durch Ber­lin hum­pelte. Zum ers­ten Mal fiel mir damals schmerz­lich auf, dass man mit einer Geheinschrän­kung in der deut­schen Haupt­stadt nicht U-Bahn fah­ren sollte, weil es viel zu wenige Roll­trep­pen und Fahr­stühle gibt. Das war mir vor­her gar nicht auf­ge­fal­len. Meine zweite Ein­sicht: Man darf nicht erwar­ten, dass andere Men­schen einem die Tür auf­hal­ten oder einen bei einer Schlange vor­las­sen, nur weil man ein Bein nicht rich­tig benut­zen kann. Hel­fen tun einem nur die­je­ni­gen, die selbst eine ver­gleich­bare Erfah­rung gemacht haben. Das führt dann manch­mal zu net­ten, auf­mun­tern­den Gesprä­chen. Die ande­ren het­zen wei­ter oder star­ren auf ihr Handy.

Die Krü­cken – Ent­schul­di­gung, die Stüt­zen – sind inzwi­schen im Kel­ler gelan­det, zum Glück. Dafür liegt etwas auf mei­nem Schreib­tisch, das auf andere Weise untrenn­bar mit In-/Ex­klu­sion ver­bun­den ist. Denn ich habe die erzwun­ge­nen Muße­stun­den der Corona-Monate dafür genutzt, um gemein­sam mit mei­nem Kol­le­gen Ulrich Lilie, Prä­si­dent der deut­schen Dia­ko­nie, ein Buch über Ein­sam­keit mit dem Titel „Für sich sein. Ein Atlas der Ein­sam­kei­ten“ zu schrei­ben. Das Thema bewegt mich wie jeden Men­schen, als Pas­tor ver­binde ich damit viele beruf­li­che Erleb­nisse. Schon lange hat mich irri­tiert, wie wenig über diese exis­ten­zi­elle Grund­er­fah­rung gespro­chen wird, obwohl sie doch jeder kennt. Sie ist so scham­be­setzt, dass kaum jemand sich zu ihr bekennt. Eine Krebs­er­kran­kung gibt man leich­ter zu, als dass man sagen würde: „Ich bin gerade sehr einsam“.

Es ist eine der weni­gen sinn­vol­len Fol­gen der Coro­na­zeit, dass inzwi­schen offe­ner und ehr­li­cher über Ein­sam­keit gespro­chen wird. Denn all die Ein­schrän­kun­gen haben dazu geführt, dass plötz­lich viele in eine Situa­tion gerie­ten, in der sich viele Men­schen seit Lan­gem befin­den, denen man für gewöhn­lich keine Auf­merk­sam­keit zuteil­wer­den lässt. Jetzt waren fast alle allein, abge­schnit­ten, iso­liert. Aller­dings hat mich beim neuen öffent­li­chen Reden über die Ein­sam­keit zwei­er­lei gestört. Zum einen ein zum Teil kata­stro­phi­scher Sound. Von Ein­sam­keit als einer neuen Epi­de­mie, einer sozia­len Lepra war da die Rede. Natür­lich kann eine chro­ni­sche Ein­sam­keit den Kör­per krank machen. Aber soll man des­halb ein­same Men­schen krank­schrei­ben? Zum ande­ren gab es einige poli­ti­sche Äuße­run­gen, die mir viel zu tech­no­kra­tisch waren. Ein Ein­sam­keits­be­auf­trag­ter solle ernannt und Maß­nah­men­pa­kete geschnürt wer­den. Ich weiß nicht, wem damit gehol­fen würde – außer dem neuen Ein­sam­keits­be­auf­trag­ten selbst.

Mir ging es bei den Recher­chen für unser Buch erst ein­mal darum, die Fülle der mensch­li­chen Mög­lich­kei­ten in den Blick zu neh­men, die unter dem Eti­kett „Ein­sam­keit“ ver­sam­melt wer­den. So viele indi­vi­du­elle Geschich­ten und Gesich­ter: der unpo­pu­läre Teen­ager, die Stu­den­tin im ers­ten Semes­ter nur mit Online-Lehre in einer frem­den Stadt, der Migrant ohne Deutsch­kennt­nisse, der chro­nisch Kranke, die Gehör­lose, der Künst­ler ohne Auf­tritts­mög­lich­kei­ten oder Men­schen, die ein Fami­li­en­mit­glied pfle­gen. Es gibt so viele Fak­to­ren, die einen exklu­die­ren kön­nen. Mehr als frü­her? Dafür habe ich keine Belege gefun­den. Wahr­schein­lich ist es nur so, dass es in unse­rer Gegen­wart mehr Wech­sel gibt und damit ein höhe­res Risiko, nach einer Ver­än­de­rung in Ein­sam­keit zu gera­ten. Zuge­nom­men hat aller­dings ihre nega­tive Bewer­tung. Auf mei­nen kul­tur­ge­schicht­li­chen Streif­zü­gen konnte ich fest­stel­len, dass das Allein­sein in eini­gen frü­he­ren Epo­chen hoch­ge­schätzt, ja zum Inbe­griff eines guten und hei­li­gen Lebens erklärt wurde. Die Refor­ma­tion und dann die Auf­klä­rung haben das been­det, schade eigentlich.

Wie das lei­der so ist beim Bücher­schrei­ben. Die schöns­ten Geschich­ten und Zitate fal­len einem erst vor die Füße, wenn das gedruckte Exem­plar vor einem liegt. Vor Kur­zem habe ich mich mit einem alten Hel­den von mir befasst: Lud­wig Mar­cuse. Denn am 2. August jährte sich der Todes­tag die­ses Lite­ra­tur­kri­ti­kers, Phi­lo­so­phen und Essay­is­ten zum 50. Mal. Immer noch fri­sche Arti­kel und Essays hat er ver­fasst, die lite­ra­ri­sche Fülle der Wei­ma­rer Repu­blik genos­sen, ist recht­zei­tig vor den Natio­nal­so­zia­lis­ten geflo­hen, hat in Süd­frank­reich das Exil mit Brecht, den Manns, den Zweigs geteilt, sich in die USA geret­tet, ist spä­ter in die kalte Hei­mat zurück­ge­kehrt, damit immer ein Ein­zel­gän­ger, ein Ein­zel­ner geblie­ben, hat sich nie gemein gemacht, ist nie gemein gewor­den. Bei ihm kann man sehen, was es heißt, für sich zu blei­ben. Bei ihm habe ich diese Sätze gefun­den: „Wer sich ein­sam fühlt und damit aus­ge­sto­ßen, sollte auch erken­nen, dass die Erfah­rung, iso­liert zu sein, zur Defi­ni­tion des Mensch­seins gehört – wenn auch nur sel­ten zum Bewusst­sein. Jeder ist, sei­ner Anlage nach, vor allem ein­sam, selbst wenn er es acht­zig Jahre lang nicht gemerkt hat.“

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-10-29T14:16:06+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

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Ehr­li­cher Dis­kurs über das Alleinsein

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.