Johann Hinrich Claussen 2. September 2021 Logo_Initiative_print.png

Ein­sam­keit

Ehr­li­cher Dis­kurs über das Alleinsein

Inklusion und Exklusion haben viele Gesichter, unter anderem das eigene. In diesem Frühsommer konnte ich das am eigenen Leib erfahren, als ich an Krücken – halt, politisch korrekt heißt es natürlich: an Unterarmgehstützen durch Berlin humpelte. Zum ersten Mal fiel mir damals schmerzlich auf, dass man mit einer Geheinschränkung in der deutschen Hauptstadt nicht U-Bahn fahren sollte, weil es viel zu wenige Rolltreppen und Fahrstühle gibt. Das war mir vorher gar nicht aufgefallen. Meine zweite Einsicht: Man darf nicht erwarten, dass andere Menschen einem die Tür aufhalten oder einen bei einer Schlange vorlassen, nur weil man ein Bein nicht richtig benutzen kann. Helfen tun einem nur diejenigen, die selbst eine vergleichbare Erfahrung gemacht haben. Das führt dann manchmal zu netten, aufmunternden Gesprächen. Die anderen hetzen weiter oder starren auf ihr Handy.

Die Krücken – Entschuldigung, die Stützen – sind inzwischen im Keller gelandet, zum Glück. Dafür liegt etwas auf meinem Schreibtisch, das auf andere Weise untrennbar mit In-/Exklusion verbunden ist. Denn ich habe die erzwungenen Mußestunden der Corona-Monate dafür genutzt, um gemeinsam mit meinem Kollegen Ulrich Lilie, Präsident der deutschen Diakonie, ein Buch über Einsamkeit mit dem Titel „Für sich sein. Ein Atlas der Einsamkeiten“ zu schreiben. Das Thema bewegt mich wie jeden Menschen, als Pastor verbinde ich damit viele berufliche Erlebnisse. Schon lange hat mich irritiert, wie wenig über diese existenzielle Grunderfahrung gesprochen wird, obwohl sie doch jeder kennt. Sie ist so schambesetzt, dass kaum jemand sich zu ihr bekennt. Eine Krebserkrankung gibt man leichter zu, als dass man sagen würde: „Ich bin gerade sehr einsam“.

Es ist eine der wenigen sinnvollen Folgen der Coronazeit, dass inzwischen offener und ehrlicher über Einsamkeit gesprochen wird. Denn all die Einschränkungen haben dazu geführt, dass plötzlich viele in eine Situation gerieten, in der sich viele Menschen seit Langem befinden, denen man für gewöhnlich keine Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt. Jetzt waren fast alle allein, abgeschnitten, isoliert. Allerdings hat mich beim neuen öffentlichen Reden über die Einsamkeit zweierlei gestört. Zum einen ein zum Teil katastrophischer Sound. Von Einsamkeit als einer neuen Epidemie, einer sozialen Lepra war da die Rede. Natürlich kann eine chronische Einsamkeit den Körper krank machen. Aber soll man deshalb einsame Menschen krankschreiben? Zum anderen gab es einige politische Äußerungen, die mir viel zu technokratisch waren. Ein Einsamkeitsbeauftragter solle ernannt und Maßnahmenpakete geschnürt werden. Ich weiß nicht, wem damit geholfen würde – außer dem neuen Einsamkeitsbeauftragten selbst.

Mir ging es bei den Recherchen für unser Buch erst einmal darum, die Fülle der menschlichen Möglichkeiten in den Blick zu nehmen, die unter dem Etikett „Einsamkeit“ versammelt werden. So viele individuelle Geschichten und Gesichter: der unpopuläre Teenager, die Studentin im ersten Semester nur mit Online-Lehre in einer fremden Stadt, der Migrant ohne Deutschkenntnisse, der chronisch Kranke, die Gehörlose, der Künstler ohne Auftrittsmöglichkeiten oder Menschen, die ein Familienmitglied pflegen. Es gibt so viele Faktoren, die einen exkludieren können. Mehr als früher? Dafür habe ich keine Belege gefunden. Wahrscheinlich ist es nur so, dass es in unserer Gegenwart mehr Wechsel gibt und damit ein höheres Risiko, nach einer Veränderung in Einsamkeit zu geraten. Zugenommen hat allerdings ihre negative Bewertung. Auf meinen kulturgeschichtlichen Streifzügen konnte ich feststellen, dass das Alleinsein in einigen früheren Epochen hochgeschätzt, ja zum Inbegriff eines guten und heiligen Lebens erklärt wurde. Die Reformation und dann die Aufklärung haben das beendet, schade eigentlich.

Wie das leider so ist beim Bücherschreiben. Die schönsten Geschichten und Zitate fallen einem erst vor die Füße, wenn das gedruckte Exemplar vor einem liegt. Vor Kurzem habe ich mich mit einem alten Helden von mir befasst: Ludwig Marcuse. Denn am 2. August jährte sich der Todestag dieses Literaturkritikers, Philosophen und Essayisten zum 50. Mal. Immer noch frische Artikel und Essays hat er verfasst, die literarische Fülle der Weimarer Republik genossen, ist rechtzeitig vor den Nationalsozialisten geflohen, hat in Südfrankreich das Exil mit Brecht, den Manns, den Zweigs geteilt, sich in die USA gerettet, ist später in die kalte Heimat zurückgekehrt, damit immer ein Einzelgänger, ein Einzelner geblieben, hat sich nie gemein gemacht, ist nie gemein geworden. Bei ihm kann man sehen, was es heißt, für sich zu bleiben. Bei ihm habe ich diese Sätze gefunden: „Wer sich einsam fühlt und damit ausgestoßen, sollte auch erkennen, dass die Erfahrung, isoliert zu sein, zur Definition des Menschseins gehört – wenn auch nur selten zum Bewusstsein. Jeder ist, seiner Anlage nach, vor allem einsam, selbst wenn er es achtzig Jahre lang nicht gemerkt hat.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

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