Bar­rie­re­freies Lesen

Die Buch­bran­che ist auf dem Weg zu mehr Teilhabe

E-Books, E-Rea­der, Online­shops – das sind einige Pro­dukte und Dienst­leis­tun­gen, die ab dem 28. Juni 2025 in der Pra­xis bar­rie­re­frei sein müs­sen. Grund­lage für diese Rege­lung ist eine EU-Richt­li­nie, der Euro­pean Acces­si­bi­lity Act, der im Mai die­ses Jah­res in Deutsch­land als Bar­rie­re­frei­heits­stär­kungs­ge­setz (BFSG) umge­setzt wurde. In dem sehr umfang­rei­chen Gesetz kann man die Buch­bran­che leicht über­se­hen – und doch sind die dort for­mu­lier­ten Anfor­de­run­gen für Ver­lage, Buch­hand­lun­gen, deren Dienst­leis­ter und Part­ner groß. Viele Häu­ser haben das Thema bereits erkannt und schon vor Jah­ren erste Umstel­lungs­pro­zesse ange­scho­ben. Per­spek­ti­visch müs­sen sich alle Bran­chen­teil­neh­me­rin­nen und -teil­neh­mer eher heute als mor­gen inten­siv mit den nun gül­ti­gen Anfor­de­run­gen beschäftigen.

In Deutsch­land gibt es ca. 1,2 Mil­lio­nen seh­be­hin­derte und dar­un­ter 200.000 blinde Men­schen. Von den durch­schnitt­lich 70.000 bis 85.000 Neu­erschei­nun­gen der Ver­lage pro Jahr wer­den aber nur unge­fähr zwei Pro­zent über Son­der­pro­duk­ti­ons­zen­tren in blin­den- und seh­be­hin­der­ten­ge­rechte For­mate umge­wan­delt: Braille, DAISY- oder digi­tale bar­rie­re­freie For­mate. Meist kön­nen die Inhalte nur mit einer ein- bis zwei­jäh­ri­gen War­te­zeit nach­träg­lich rezi­piert wer­den. Diese weni­gen Zah­len ver­deut­li­chen bereits, dass hier gro­ßer Hand­lungs­be­darf besteht. Der ein­ge­schla­gene Weg hin zur digi­ta­len Bar­rie­re­frei­heit ist dabei ein rich­ti­ger und wich­ti­ger. Er eröff­net viele Chan­cen und för­dert For­mate, die nicht nur das Ange­bot für blinde, seh- und lese­be­hin­derte Men­schen expo­nen­ti­ell wach­sen, son­dern auch ander­wei­tig ein­ge­schränkte Leser­grup­pen, wie moto­risch ein­ge­schränkte Men­schen, davon pro­fi­tie­ren lässt.

Zukünf­tig sol­len Texte und Inhalte so auf­be­rei­tet wer­den, dass assis­tive Tech­no­lo­gien wie Bild­schirm­vor­le­se­pro­gramme die Struk­tu­ren und Hier­ar­chien von Tex­ten erken­nen und akus­tisch aus­ge­ben kön­nen. Das bedeu­tet für Ver­lage, dass sie von Beginn an eine erhöhte Daten­qua­li­tät gewähr­leis­ten müs­sen. Beson­ders wich­tig ist dies bei Fach- und Wis­sen­schafts­tex­ten, die mit Über­schrif­ten, Fuß­no­ten, Bild­un­ter­schrif­ten etc. arbei­ten. Auch das Zurecht­fin­den der oder des Lesen­den im Text – die Navi­gier­bar­keit – wird durch die auf­be­rei­te­ten Text­struk­tu­ren erheb­lich ver­bes­sert. Was die mobi­len End­ge­räte wie E-Rea­der anbe­langt, soll die Nut­zer­freund­lich­keit zusätz­lich erhöht wer­den. Vor dem Lesen steht aller­dings der Kauf des E-Books und auch hier macht der Gesetz­ge­ber Vor­ga­ben: Online­shops müs­sen zukünf­tig ebenso den Web­an­for­de­run­gen für Bar­rie­re­frei­heit fol­gen wie eine gewöhn­li­che Web­seite, das trifft auch auf die Sei­ten zwi­schen­ge­schal­te­ter Bezahl­dienst­leis­ter zu. All das zusam­men macht erst das tat­säch­lich bar­rie­re­freie Lese­er­leb­nis aus.

Es geht aber nicht allein um Zugang zu Lite­ra­tur, son­dern um Zugang zu Wis­sen, zu Bil­dung und Infor­ma­tion und somit nicht zuletzt um die gesell­schaft­li­che Teil­habe blin­der, seh- und lese­be­hin­der­ter Men­schen. Teil­habe zu ermög­li­chen, liegt im Selbst­ver­ständ­nis der Buch­bran­che und es ist an der Zeit, dabei Lese­rin­nen und Leser kon­se­quent mit­zu­den­ken, die bis­lang einen zu ein­ge­schränk­ten Zugang hatten.

Bis 2025 wol­len wir als Ver­band die Mit­glie­der und die Bran­che im All­ge­mei­nen bei der Umstel­lung unter­stüt­zen. In enger Koope­ra­tion mit dem Deut­schen Zen­trum für bar­rie­re­freies Lesen haben wir hierzu im ver­gan­ge­nen Jahr eine Task-Force gegrün­det. Bewusst­sein bil­den, Hil­fe­stel­lun­gen geben, Leit­fä­den ent­wi­ckeln und Lösungs­an­sätze dis­ku­tie­ren, das sind kurz gesagt die Haupt­an­lie­gen der Gruppe, die über ihre Mit­glie­der auch aus Öster­reich und der Schweiz alle Facet­ten der deutsch­spra­chi­gen Buch­bran­che abdeckt. Wei­tere Schwer­punkte der Arbeit wer­den auf die Ent­wick­lung von Schu­lungs- und Wei­ter­bil­dungs­an­ge­bo­ten sowie die Bean­tra­gung von mög­li­chen För­der­gel­dern des Bun­des gelegt. Der Aus­tausch mit den euro­päi­schen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen ist dabei eben­falls sehr hilf­reich. Mit der vor­bild­haf­ten Arbeit der Fon­da­zione LIA konnte der ita­lie­ni­sche Ver­le­ger­ver­band bei­spiels­weise schon viele Erfah­run­gen ein­ho­len, von denen auch wir pro­fi­tie­ren und somit das Rad nicht neu erfin­den müs­sen. Die tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lun­gen der nächs­ten Jahre wer­den die Umstel­lungs­pro­zesse in der Bran­che eben­falls beschleu­ni­gen. Die ers­ten guten Erfah­run­gen wer­den bereits bei den auto­ma­ti­sier­ten Bild­be­schrei­bun­gen durch die Anwen­dung von künst­li­cher Intel­li­genz gemacht. Hier besteht in jedem Fall gro­ßes Poten­zial, das wir im Auge behalten.

Uns ist bei all­dem sehr bewusst, dass es Spar­ten gibt, die auf­grund ihrer kom­ple­xen Publi­ka­tio­nen vor beson­dere Her­aus­for­de­run­gen gestellt wer­den, so z. B. die bereits erwähn­ten Fach- und Wis­sen­schafts­ver­lage. Der ganze Umstel­lungs­pro­zess wird zudem dadurch ver­lang­samt, dass sowohl vom EU- als auch vom natio­na­len Gesetz­ge­ber zu viele Fra­gen offen­ge­las­sen wur­den. Die der­zeit noch zu erar­bei­tende Rechts­ver­ord­nung soll bei den tech­ni­schen Anfor­de­run­gen wei­tere Klar­heit brin­gen. Sie wird das BFSG in Zukunft ergänzen.

Vor die­sem Hin­ter­grund abschlie­ßend zwei zen­trale Erwar­tun­gen: Das Bun­des­mi­nis­te­rium für Arbeit und Sozia­les und die mit­be­ra­ten­den Minis­te­rien soll­ten die gebün­delte Exper­tise der Task-Force bei der Aus­ge­stal­tung der Rechts­ver­ord­nung abru­fen und gemein­sam mit den Bran­chen­teil­neh­me­rin­nen und -teil­neh­mern sinn­volle und prak­tisch gut umsetz­bare Lösun­gen for­mu­lie­ren. Die Chance, einen gan­zen Bereich des Geset­zes durch eine enga­gierte und gut auf­ge­stellte Exper­ten­runde durch­den­ken zu kön­nen, sollte nicht unge­nutzt blei­ben. Zudem sollte der gezielte Ein­satz von För­der­gel­dern des Bun­des ange­scho­ben wer­den. Mit einem finan­zi­el­len Zuschuss unter ande­rem im Bereich Schu­lun­gen und Wei­ter­bil­dung könn­ten wir alle Unter­neh­men der Bran­che errei­chen und den effi­zi­en­ten Infor­ma­ti­ons­fluss gewähr­leis­ten. Ein kon­kre­ter Vor­schlag von uns liegt dazu bereits vor.

Wir sehen also wich­tige gemein­same Stell­schrau­ben, die dazu bei­tra­gen kön­nen, das große Enga­ge­ment der Bran­che auf dem Weg bis 2025 noch zu beflü­geln – sodass den unter­schied­li­chen Wahr­neh­mungs­mög­lich­kei­ten und Wün­schen von Men­schen mit Behin­de­run­gen in Zukunft mit Fle­xi­bi­li­tät und Viel­falt begeg­net wer­den kann.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:01:34+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

Bar­rie­re­freies Lesen

Die Buch­bran­che ist auf dem Weg zu mehr Teilhabe

Kristina Kramer ist stellvertretende Direktorin für europäische und internationale Angelegenheiten im Börsenverein des Deutschen Buchhandels und Mitinitiatorin der Task-Force Barrierefreiheit.