Kristina Kramer 2. September 2021 Logo_Initiative_print.png

Bar­rie­re­freies Lesen

Die Buch­bran­che ist auf dem Weg zu mehr Teilhabe

E-Books, E-Reader, Onlineshops – das sind einige Produkte und Dienstleistungen, die ab dem 28. Juni 2025 in der Praxis barrierefrei sein müssen. Grundlage für diese Regelung ist eine EU-Richtlinie, der European Accessibility Act, der im Mai dieses Jahres in Deutschland als Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) umgesetzt wurde. In dem sehr umfangreichen Gesetz kann man die Buchbranche leicht übersehen – und doch sind die dort formulierten Anforderungen für Verlage, Buchhandlungen, deren Dienstleister und Partner groß. Viele Häuser haben das Thema bereits erkannt und schon vor Jahren erste Umstellungsprozesse angeschoben. Perspektivisch müssen sich alle Branchenteilnehmerinnen und -teilnehmer eher heute als morgen intensiv mit den nun gültigen Anforderungen beschäftigen.

In Deutschland gibt es ca. 1,2 Millionen sehbehinderte und darunter 200.000 blinde Menschen. Von den durchschnittlich 70.000 bis 85.000 Neuerscheinungen der Verlage pro Jahr werden aber nur ungefähr zwei Prozent über Sonderproduktionszentren in blinden- und sehbehindertengerechte Formate umgewandelt: Braille, DAISY- oder digitale barrierefreie Formate. Meist können die Inhalte nur mit einer ein- bis zweijährigen Wartezeit nachträglich rezipiert werden. Diese wenigen Zahlen verdeutlichen bereits, dass hier großer Handlungsbedarf besteht. Der eingeschlagene Weg hin zur digitalen Barrierefreiheit ist dabei ein richtiger und wichtiger. Er eröffnet viele Chancen und fördert Formate, die nicht nur das Angebot für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen exponentiell wachsen, sondern auch anderweitig eingeschränkte Lesergruppen, wie motorisch eingeschränkte Menschen, davon profitieren lässt.

Zukünftig sollen Texte und Inhalte so aufbereitet werden, dass assistive Technologien wie Bildschirmvorleseprogramme die Strukturen und Hierarchien von Texten erkennen und akustisch ausgeben können. Das bedeutet für Verlage, dass sie von Beginn an eine erhöhte Datenqualität gewährleisten müssen. Besonders wichtig ist dies bei Fach- und Wissenschaftstexten, die mit Überschriften, Fußnoten, Bildunterschriften etc. arbeiten. Auch das Zurechtfinden der oder des Lesenden im Text – die Navigierbarkeit – wird durch die aufbereiteten Textstrukturen erheblich verbessert. Was die mobilen Endgeräte wie E-Reader anbelangt, soll die Nutzerfreundlichkeit zusätzlich erhöht werden. Vor dem Lesen steht allerdings der Kauf des E-Books und auch hier macht der Gesetzgeber Vorgaben: Onlineshops müssen zukünftig ebenso den Webanforderungen für Barrierefreiheit folgen wie eine gewöhnliche Webseite, das trifft auch auf die Seiten zwischengeschalteter Bezahldienstleister zu. All das zusammen macht erst das tatsächlich barrierefreie Leseerlebnis aus.

Es geht aber nicht allein um Zugang zu Literatur, sondern um Zugang zu Wissen, zu Bildung und Information und somit nicht zuletzt um die gesellschaftliche Teilhabe blinder, seh- und lesebehinderter Menschen. Teilhabe zu ermöglichen, liegt im Selbstverständnis der Buchbranche und es ist an der Zeit, dabei Leserinnen und Leser konsequent mitzudenken, die bislang einen zu eingeschränkten Zugang hatten.

Bis 2025 wollen wir als Verband die Mitglieder und die Branche im Allgemeinen bei der Umstellung unterstützen. In enger Kooperation mit dem Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen haben wir hierzu im vergangenen Jahr eine Task-Force gegründet. Bewusstsein bilden, Hilfestellungen geben, Leitfäden entwickeln und Lösungsansätze diskutieren, das sind kurz gesagt die Hauptanliegen der Gruppe, die über ihre Mitglieder auch aus Österreich und der Schweiz alle Facetten der deutschsprachigen Buchbranche abdeckt. Weitere Schwerpunkte der Arbeit werden auf die Entwicklung von Schulungs- und Weiterbildungsangeboten sowie die Beantragung von möglichen Fördergeldern des Bundes gelegt. Der Austausch mit den europäischen Kolleginnen und Kollegen ist dabei ebenfalls sehr hilfreich. Mit der vorbildhaften Arbeit der Fondazione LIA konnte der italienische Verlegerverband beispielsweise schon viele Erfahrungen einholen, von denen auch wir profitieren und somit das Rad nicht neu erfinden müssen. Die technologischen Entwicklungen der nächsten Jahre werden die Umstellungsprozesse in der Branche ebenfalls beschleunigen. Die ersten guten Erfahrungen werden bereits bei den automatisierten Bildbeschreibungen durch die Anwendung von künstlicher Intelligenz gemacht. Hier besteht in jedem Fall großes Potenzial, das wir im Auge behalten.

Uns ist bei alldem sehr bewusst, dass es Sparten gibt, die aufgrund ihrer komplexen Publikationen vor besondere Herausforderungen gestellt werden, so z. B. die bereits erwähnten Fach- und Wissenschaftsverlage. Der ganze Umstellungsprozess wird zudem dadurch verlangsamt, dass sowohl vom EU- als auch vom nationalen Gesetzgeber zu viele Fragen offengelassen wurden. Die derzeit noch zu erarbeitende Rechtsverordnung soll bei den technischen Anforderungen weitere Klarheit bringen. Sie wird das BFSG in Zukunft ergänzen.

Vor diesem Hintergrund abschließend zwei zentrale Erwartungen: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und die mitberatenden Ministerien sollten die gebündelte Expertise der Task-Force bei der Ausgestaltung der Rechtsverordnung abrufen und gemeinsam mit den Branchenteilnehmerinnen und -teilnehmern sinnvolle und praktisch gut umsetzbare Lösungen formulieren. Die Chance, einen ganzen Bereich des Gesetzes durch eine engagierte und gut aufgestellte Expertenrunde durchdenken zu können, sollte nicht ungenutzt bleiben. Zudem sollte der gezielte Einsatz von Fördergeldern des Bundes angeschoben werden. Mit einem finanziellen Zuschuss unter anderem im Bereich Schulungen und Weiterbildung könnten wir alle Unternehmen der Branche erreichen und den effizienten Informationsfluss gewährleisten. Ein konkreter Vorschlag von uns liegt dazu bereits vor.

Wir sehen also wichtige gemeinsame Stellschrauben, die dazu beitragen können, das große Engagement der Branche auf dem Weg bis 2025 noch zu beflügeln – sodass den unterschiedlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten und Wünschen von Menschen mit Behinderungen in Zukunft mit Flexibilität und Vielfalt begegnet werden kann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

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