Gedicht und Dich­tern einen Ort geben

Tho­mas Wohl­fahrt vom "Haus für Poe­sie" im Porträt

Die Prosa hat eine viel­fäl­tige Ver­lags­land­schaft und wird über inter­na­tio­nale Buch­mes­sen wie in Frank­furt und Leip­zig dis­tri­bu­iert. Das Drama hat in Deutsch­land eine ein­zig­ar­tige Thea­ter­land­schaft zur Ver­fü­gung, mit den Stadt- und Staats­thea­tern, Lan­des- und Freien Thea­tern. Lyrik hat diese Orte nicht. Die­ses Por­trät han­delt von einem Lyrik-Beses­se­nen, der der Lyrik in Deutsch­land einen Ort ver­schaffte, indem er 1991 mit Gleich­ge­sinn­ten und Mit­ar­bei­tern die Lite­ra­tur­werk­statt im Ber­li­ner Maja­kowski­ring grün­dete. Die­ser – neben dem Lyrik-Kabi­nett in Mün­chen – ein­zige Ort in Deutsch­land nur für Lyrik lebt bis heute als „Haus für Poe­sie“ in der Kul­tur­braue­rei am Prenz­lauer Berg wei­ter. Der Geschäfts­füh­rer und Pro­gramm­ma­cher ist auch heute noch der­selbe wie vor 30 Jah­ren: Tho­mas Wohl­fahrt, gebo­ren 1956 in Eisen­ach, Stu­dium der Ger­ma­nis­tik und Musik­wis­sen­schaft an der Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Halle/Wittenberg, Pro­mo­tion 1985 zum Dr. phil.

Nach der Pro­mo­tion bekam Wohl­fahrt keine Stelle an der Uni­ver­si­tät. Wie er spä­ter aus sei­nen Stasi-Akten erfuhr, hatte das poli­ti­sche Gründe. Von 1983 bis 1988 arbei­tete er in der For­schungs­stelle am Zen­tral­in­sti­tut für Lite­ra­tur­ge­schichte der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR in Ost-Ber­lin. „Nach dem Pra­ger Früh­ling 1968 gegrün­det, wur­den die unbe­que­men Profs von den Unis abge­zo­gen und ans Zen­tral­in­sti­tut ver­setzt, nach der Devise: ‚Denkt euch euren Teil, aber ver­saut unsere Jugend nicht.‘ Eine durch­aus staats­män­ni­sche Lösung, wenn man so will. Dort fand auch ich eine Stelle in der Forschung.“

Immer wie­der wurde der junge Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler zu Vor­trä­gen in den Wes­ten ein­ge­la­den. Immer wie­der lehnte die zustän­dige Behörde ab. End­lich, im Sep­tem­ber 1987, fuhr Wohl­fahrt das erste Mal in den Wes­ten. „Zeit­gleich mit Hon­ecker“, erin­nert sich Wohl­fahrt, „der war zu Hel­mut Kohl gela­den. Man machte gute Stim­mung im Land, man öff­nete sich, es hieß, die jun­gen Leute müs­sen raus in die Welt – und da flutschte ich mit durch …“.

Ein Drei­vier­tel­jahr lang fuhr Wohl­fahrt hin und her von Ost nach West und zurück, und es dau­erte nicht lange, da erwischte auch ihn die „Ost­west­krank­heit“: „Die infi­zier­ten Leute beka­men hef­tig Fie­ber­schübe, wenn sie zurück­kehr­ten. Ein Rück­keh­rer-Phä­no­men, mit dem ich nicht gerech­net hatte. Es war klar, ich musste weg. Weg aus die­sem Land, das es einem nur schwer macht, einen behin­dert. Es war eine blei­erne Zeit. Ich suchte nach dem rich­ti­gen Ter­min, damit ich nie­man­dem schade. Denn Mit­wis­ser­schaft war Mit­tä­ter­schaft und wurde hart bestraft.“

1988 schlug Wohl­fahrt im Wes­ten auf, war zunächst arbeits­los, arbei­tete ein biss­chen bei der Zei­tung, ein biss­chen für den Rund­funk. „Was man halt so macht“, sagt Wohl­fahrt zu die­ser Zeit in der Retro­spek­tive. Schnell ver­diente er sich erste Meri­ten, indem er nach der Wende für den Senat Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen organ­sierte. 1989/1990 erhielt er ein Wis­sen­schafts­sti­pen­dium der Stif­tung Preu­ßi­sche See­hand­lung und von 1990 bis 1991 war er künst­le­ri­scher Lei­ter des Thea­ter­haus Ber­lin. Was man im Wes­ten nur als Steu­er­erhö­hung emp­fun­den hat, war für die Men­schen im Osten ein Bruch im Leben, eine Ver­wer­fung – man musste sich neu erfin­den. Für Tho­mas Wohl­fahrt stand 1991 plötz­lich die Frage im Raum: „Lite­ra­tur­werk­statt im Gro­te­wohl­haus am Maja­kowski­ring. Wol­len Sie? Kön­nen Sie sich das vor­stel­len? Ich habe Ja gesagt. Nicht wis­send, was auf mich zukommt, und dass dar­aus mein zwei­tes durch­gän­gi­ges Berufs­le­ben gewor­den ist. Das hatte ich mir damals nicht träu­men lassen.“

Das Domi­zil der Ber­li­ner Sek­tion des DDR-Schrift­stel­ler­ver­ban­des, die ihren Sitz in der Gro­te­wohl Villa im Maja­kowski­ring hatte, war mit der poli­ti­schen Wende 1989 von kri­ti­schen Autorin­nen, Autoren, Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern besetzt wor­den. „Die Beset­zer waren die Grün­der des Ver­eins, der mich als Geschäfts­füh­rer und Pro­gramm­ma­cher ange­stellt hatte. Mit Mit­ar­bei­tern zusam­men habe ich das Haus auf­ge­baut zu dem, was es heute ist.“

Zum 25-jäh­ri­gen Jubi­läum 2016 hat sich die Lite­ra­tur­werk­statt Ber­lin in „Haus für Poe­sie“ umbe­nannt. In die­sem Jahr begeht man 30-jäh­ri­ges Bestehen. Es ist ein Ort, an dem zeit­ge­nös­si­sche Poe­sie in ihrer gesam­ten For­men­viel­falt auf die Bühne gebracht und dis­ku­tiert wird. Als Lei­ter des Hau­ses für Poe­sie ver­ant­wor­tet Wohl­fahrt jähr­lich etwa 200 Ver­an­stal­tun­gen zur zeit­ge­nös­si­schen deut­schen und inter­na­tio­na­len Lyrik sowie das poe­sie­fes­ti­val ber­lin, das ZEBRA Poetry Film Fes­ti­val und den open mike.

Seit über 20 Jah­ren kom­men ein­mal im Jahr 130 bis 150 Künst­le­rin­nen und Künst­ler aus aller Welt zum poe­sie­fes­ti­val ber­lin und prä­sen­tie­ren aktu­elle Ten­den­zen zeit­ge­nös­si­scher Dicht­kunst. Wohl­fahrt erin­nert sich an den Nukleus sei­nes ers­ten Lite­ra­tur­fes­ti­vals: „Das 1. Fes­ti­val Novem­ber 1991, zwei Monate nach der Eröff­nung, war ein iri­sches. Zwölf iri­sche Autorin­nen und Autoren aus Nord- und Süd­ir­land, tra­fen auf ein ost­west­deut­sches Publi­kum, das seine ost­west­deut­schen Fra­gen stellte. Die Gäste ant­wor­te­ten nord­süd­irisch – es war ein groß­ar­ti­ger Cul­tu­ral Clash, der eine iri­sche Autorin zu der augen­zwin­kernd-ver­zwei­fel­ten Bemer­kung brachte: ‚Viel­leicht gut, wenn wir uns nicht vereinigen‘.“

Im Jahre 1999 vom Haus für Poe­sie initi­iert, basiert Lyrik­line seit 2003 auf inter­na­tio­na­ler Zusam­men­ar­beit mit Insti­tu­tio­nen aus über 50 Län­dern. Auf Lyrik­line sind 13.268 Gedichte von bei­nahe 1.500 Dich­tern in 83 Spra­chen mit über 20.600 Über­set­zun­gen ver­tre­ten, in über 80 Spra­chen zu lesen und ori­gi­nal, von den Dich­tern ein­ge­spro­chen, zu hören. Die Lyrik­line ist eine Welt­marke gewor­den und Tho­mas Wohl­fahrt und sein Pro­jekt­lei­ter und Redak­teur Heiko Strunk haben dafür im Jahr 2005 den Grimme Online Award bekommen.

Das ZEBRA Poetry Film Fes­ti­val gibt es seit 2002. Es war die erste und ist die größte inter­na­tio­nale Platt­form für Kurz­filme, die auf Gedich­ten basie­ren – den Poesiefilmen.

Der open mike hat sich zum wich­tigs­ten deutsch­spra­chi­gen Nach­wuchs­wett­be­werb für Prosa und Lyrik ent­wi­ckelt. Er för­dert junge Autorin­nen und Autoren von den Schreib­an­fän­gen bis über die erste Ver­öf­fent­li­chung hin­aus. Viele bedeu­tende Autorin­nen und Autoren haben ihre Kar­riere beim open mike gestar­tet, wie Karen Duve, Julia Franck, Teré­zia Mora, Til­man Ramm­stedt, Kath­rin Rög­gla, Jochen Schmidt, Ulf Stol­ter­foht oder Judith Zan­der. Seit 1993 wird er jähr­lich ausgeschrieben.

Wäh­rend zwei Wett­be­werbs­ta­gen erle­ben 500 Zuschauer Lite­ra­tur live. Die zahl­rei­chen Lek­to­ren und Ver­le­ger im Publi­kum machen aus dem open mike den größ­ten Betriebs­aus­flug der Bran­che nach der Frank­fur­ter Buch­messe. 2020 und 2021 waren und sind es erst­mals die Ver­lage, die den open mike mit 130.000 Euro aufs Jahr gerech­net finan­zie­ren. Wohl­fahrt hat Hoff­nung, dass der renom­mierte Wett­be­werb künf­tig in den Ber­li­ner Haus­halt ein­ge­stellt wird.

Um die Zukunft der Kunst­gat­tung Lyrik macht sich Wohl­fahrt viele Gedan­ken, aber keine Sor­gen: „Lyrik gehört zu den ältes­ten Errun­gen­schaf­ten der Mensch­heit. Das Gil­ga­mesch-Epos, die Odys­see oder die Edda sind alle vol­ler Memo­tech­ni­ken, Reim, Rhyth­mus, Asso­nan­zen, Ele­mente der Lyrik und der sang­li­chen Arbeit. Weder die erste Medi­en­re­vo­lu­tion, die Erfin­dung des Buch­drucks, noch das Inter­net haben die orale Kunst erüb­rigt. Es ist umge­kehrt“, so Wohl­fahrt. „Lyrik boomt heute. Junge Leute arbei­ten mit Gedich­ten, mit Spo­ken Poetry oder Poetry Slam. Das Gedicht hat in ande­ren For­ma­tie­run­gen überlebt.“

Aktu­ell steht die kul­tur­po­li­ti­sche For­de­rung im Raum, ergän­zend zum Lite­ra­tur­fonds einen Lyrik­fonds zu grün­den. Wohl­fahrt: „Das Kon­zept für einen Bun­des­fonds gibt es schon – siehe netzwerk-lyrik.org. Das würde auch durch­schla­gen auf die Län­der und Kom­mu­nen. Es ist an der Zeit, end­lich anzu­er­ken­nen, dass Lyrik eine eigen­stän­dige Kunst­form ist, die Kunst­form der Spra­che, und sie ent­lang ihres Wesens auch zu fördern.“

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 02/2021.

Von |2021-02-05T15:48:27+01:00Februar 5th, 2021|Sprache|Kommentare deaktiviert für

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Tho­mas Wohl­fahrt vom "Haus für Poe­sie" im Porträt

Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur.