Andreas Kolb 5. Februar 2021 Logo_Initiative_print.png

Gedicht und Dich­tern einen Ort geben

Tho­mas Wohl­fahrt vom „Haus für Poe­sie“ im Porträt

Die Prosa hat eine vielfältige Verlagslandschaft und wird über internationale Buchmessen wie in Frankfurt und Leipzig distribuiert. Das Drama hat in Deutschland eine einzigartige Theaterlandschaft zur Verfügung, mit den Stadt- und Staatstheatern, Landes- und Freien Theatern. Lyrik hat diese Orte nicht. Dieses Porträt handelt von einem Lyrik-Besessenen, der der Lyrik in Deutschland einen Ort verschaffte, indem er 1991 mit Gleichgesinnten und Mitarbeitern die Literaturwerkstatt im Berliner Majakowskiring gründete. Dieser – neben dem Lyrik-Kabinett in München – einzige Ort in Deutschland nur für Lyrik lebt bis heute als „Haus für Poesie“ in der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg weiter. Der Geschäftsführer und Programmmacher ist auch heute noch derselbe wie vor 30 Jahren: Thomas Wohlfahrt, geboren 1956 in Eisenach, Studium der Germanistik und Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg, Promotion 1985 zum Dr. phil.

Nach der Promotion bekam Wohlfahrt keine Stelle an der Universität. Wie er später aus seinen Stasi-Akten erfuhr, hatte das politische Gründe. Von 1983 bis 1988 arbeitete er in der Forschungsstelle am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR in Ost-Berlin. „Nach dem Prager Frühling 1968 gegründet, wurden die unbequemen Profs von den Unis abgezogen und ans Zentralinstitut versetzt, nach der Devise: ‚Denkt euch euren Teil, aber versaut unsere Jugend nicht.‘ Eine durchaus staatsmännische Lösung, wenn man so will. Dort fand auch ich eine Stelle in der Forschung.“

Immer wieder wurde der junge Literaturwissenschaftler zu Vorträgen in den Westen eingeladen. Immer wieder lehnte die zuständige Behörde ab. Endlich, im September 1987, fuhr Wohlfahrt das erste Mal in den Westen. „Zeitgleich mit Honecker“, erinnert sich Wohlfahrt, „der war zu Helmut Kohl geladen. Man machte gute Stimmung im Land, man öffnete sich, es hieß, die jungen Leute müssen raus in die Welt – und da flutschte ich mit durch …“.

Ein Dreivierteljahr lang fuhr Wohlfahrt hin und her von Ost nach West und zurück, und es dauerte nicht lange, da erwischte auch ihn die „Ostwestkrankheit“: „Die infizierten Leute bekamen heftig Fieberschübe, wenn sie zurückkehrten. Ein Rückkehrer-Phänomen, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Es war klar, ich musste weg. Weg aus diesem Land, das es einem nur schwer macht, einen behindert. Es war eine bleierne Zeit. Ich suchte nach dem richtigen Termin, damit ich niemandem schade. Denn Mitwisserschaft war Mittäterschaft und wurde hart bestraft.“

1988 schlug Wohlfahrt im Westen auf, war zunächst arbeitslos, arbeitete ein bisschen bei der Zeitung, ein bisschen für den Rundfunk. „Was man halt so macht“, sagt Wohlfahrt zu dieser Zeit in der Retrospektive. Schnell verdiente er sich erste Meriten, indem er nach der Wende für den Senat Kulturveranstaltungen organsierte. 1989/1990 erhielt er ein Wissenschaftsstipendium der Stiftung Preußische Seehandlung und von 1990 bis 1991 war er künstlerischer Leiter des Theaterhaus Berlin. Was man im Westen nur als Steuererhöhung empfunden hat, war für die Menschen im Osten ein Bruch im Leben, eine Verwerfung – man musste sich neu erfinden. Für Thomas Wohlfahrt stand 1991 plötzlich die Frage im Raum: „Literaturwerkstatt im Grotewohlhaus am Majakowskiring. Wollen Sie? Können Sie sich das vorstellen? Ich habe Ja gesagt. Nicht wissend, was auf mich zukommt, und dass daraus mein zweites durchgängiges Berufsleben geworden ist. Das hatte ich mir damals nicht träumen lassen.“

Das Domizil der Berliner Sektion des DDR-Schriftstellerverbandes, die ihren Sitz in der Grotewohl Villa im Majakowskiring hatte, war mit der politischen Wende 1989 von kritischen Autorinnen, Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzern besetzt worden. „Die Besetzer waren die Gründer des Vereins, der mich als Geschäftsführer und Programmmacher angestellt hatte. Mit Mitarbeitern zusammen habe ich das Haus aufgebaut zu dem, was es heute ist.“

Zum 25-jährigen Jubiläum 2016 hat sich die Literaturwerkstatt Berlin in „Haus für Poesie“ umbenannt. In diesem Jahr begeht man 30-jähriges Bestehen. Es ist ein Ort, an dem zeitgenössische Poesie in ihrer gesamten Formenvielfalt auf die Bühne gebracht und diskutiert wird. Als Leiter des Hauses für Poesie verantwortet Wohlfahrt jährlich etwa 200 Veranstaltungen zur zeitgenössischen deutschen und internationalen Lyrik sowie das poesiefestival berlin, das ZEBRA Poetry Film Festival und den open mike.

Seit über 20 Jahren kommen einmal im Jahr 130 bis 150 Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt zum poesiefestival berlin und präsentieren aktuelle Tendenzen zeitgenössischer Dichtkunst. Wohlfahrt erinnert sich an den Nukleus seines ersten Literaturfestivals: „Das 1. Festival November 1991, zwei Monate nach der Eröffnung, war ein irisches. Zwölf irische Autorinnen und Autoren aus Nord- und Südirland, trafen auf ein ostwestdeutsches Publikum, das seine ostwestdeutschen Fragen stellte. Die Gäste antworteten nordsüdirisch – es war ein großartiger Cultural Clash, der eine irische Autorin zu der augenzwinkernd-verzweifelten Bemerkung brachte: ‚Vielleicht gut, wenn wir uns nicht vereinigen‘.“

Im Jahre 1999 vom Haus für Poesie initiiert, basiert Lyrikline seit 2003 auf internationaler Zusammenarbeit mit Institutionen aus über 50 Ländern. Auf Lyrikline sind 13.268 Gedichte von beinahe 1.500 Dichtern in 83 Sprachen mit über 20.600 Übersetzungen vertreten, in über 80 Sprachen zu lesen und original, von den Dichtern eingesprochen, zu hören. Die Lyrikline ist eine Weltmarke geworden und Thomas Wohlfahrt und sein Projektleiter und Redakteur Heiko Strunk haben dafür im Jahr 2005 den Grimme Online Award bekommen.

Das ZEBRA Poetry Film Festival gibt es seit 2002. Es war die erste und ist die größte internationale Plattform für Kurzfilme, die auf Gedichten basieren – den Poesiefilmen.

Der open mike hat sich zum wichtigsten deutschsprachigen Nachwuchswettbewerb für Prosa und Lyrik entwickelt. Er fördert junge Autorinnen und Autoren von den Schreibanfängen bis über die erste Veröffentlichung hinaus. Viele bedeutende Autorinnen und Autoren haben ihre Karriere beim open mike gestartet, wie Karen Duve, Julia Franck, Terézia Mora, Tilman Rammstedt, Kathrin Röggla, Jochen Schmidt, Ulf Stolterfoht oder Judith Zander. Seit 1993 wird er jährlich ausgeschrieben.

Während zwei Wettbewerbstagen erleben 500 Zuschauer Literatur live. Die zahlreichen Lektoren und Verleger im Publikum machen aus dem open mike den größten Betriebsausflug der Branche nach der Frankfurter Buchmesse. 2020 und 2021 waren und sind es erstmals die Verlage, die den open mike mit 130.000 Euro aufs Jahr gerechnet finanzieren. Wohlfahrt hat Hoffnung, dass der renommierte Wettbewerb künftig in den Berliner Haushalt eingestellt wird.

Um die Zukunft der Kunstgattung Lyrik macht sich Wohlfahrt viele Gedanken, aber keine Sorgen: „Lyrik gehört zu den ältesten Errungenschaften der Menschheit. Das Gilgamesch-Epos, die Odyssee oder die Edda sind alle voller Memotechniken, Reim, Rhythmus, Assonanzen, Elemente der Lyrik und der sanglichen Arbeit. Weder die erste Medienrevolution, die Erfindung des Buchdrucks, noch das Internet haben die orale Kunst erübrigt. Es ist umgekehrt“, so Wohlfahrt. „Lyrik boomt heute. Junge Leute arbeiten mit Gedichten, mit Spoken Poetry oder Poetry Slam. Das Gedicht hat in anderen Formatierungen überlebt.“

Aktuell steht die kulturpolitische Forderung im Raum, ergänzend zum Literaturfonds einen Lyrikfonds zu gründen. Wohlfahrt: „Das Konzept für einen Bundesfonds gibt es schon – siehe netzwerk-lyrik.org. Das würde auch durchschlagen auf die Länder und Kommunen. Es ist an der Zeit, endlich anzuerkennen, dass Lyrik eine eigenständige Kunstform ist, die Kunstform der Sprache, und sie entlang ihres Wesens auch zu fördern.“

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2021.

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