Das Signum der Zeit

Wir brau­chen eine fried­li­che Vor­stel­lung vom grö­ße­ren Zusam­men­halt aller Menschen

Wer kann das Thema noch hören? Corona und kein Ende. Das meiste hat man irgendwo schon gele­sen, gehört oder auf­ge­schnappt: Wir reden stän­dig über Infek­ti­ons­wege und Mas­ken­pflicht, den Inzi­denz­wert oder Super­sprea­der, hane­bü­chene Ver­schwö­rungs­theo­rien mit­ein­ge­schlos­sen, und natür­lich der Streit unter Viro­lo­gen. Je mehr wir erfah­ren, desto unüber­sicht­li­cher wird die Lage. Ich sehne mich fast schon nach der ers­ten Welle zurück, als es nur Chris­tian Dros­ten gab und Karl Lau­ter­bach als das besorgte Schlecht­wet­ter­männ­chen vom Dienst. Zwei, die wuss­ten, was Sache ist; oder jeden­falls den Ein­druck erweck­ten. Doch die Bühne begann sich im Laufe der Zeit zu fül­len, mit der wohl­tu­end unauf­ge­reg­ten Mela­nie Brink­mann, mit Hen­drik Stre­eck, dem jun­gen Hel­den­te­nor; auch die Rolle des Spring­teu­fels wurde besetzt. Sie war dem Hal­len­ser Popu­lär­vi­ro­lo­gen Alex­an­der Kekulé wie auf den Leib geschrie­ben. Dazu die täg­lich mah­nen­den Stim­men aus dem Robert Koch-Insti­tut. Die klan­gen wie die stei­ner­nen Rie­sen aus dem Mär­chen­gar­ten mei­ner Kind­heit. Wenn ich damals vor ihnen stand, hörte ich sie immer mur­meln: Papier, Papier, Papier. In den Mona­ten des Lock­downs waren sie häu­fig die wich­tigs­ten Kon­takte zur Außen­welt, die man zu sehen bekam, und der Anblick der täg­li­chen Infek­ti­ons­zah­len hatte etwas von Ebbe und Flut.

Ich habe ehr­li­cher­weise nicht mehr damit gerech­net, dass mich das Thema Corona noch ein­mal ver­blüf­fen könnte, bis ich mit dem Köl­ner Medi­zin­so­zio­lo­gen Hol­ger Pfaff ins Gespräch kam. Er hat mir die Gegen­per­spek­tive eröff­net, die Sicht der Fach­leute auf die Pan­de­mie. Die Viro­lo­gen stan­den plötz­lich im Schein­wer­fer­licht, aber ihrer übli­cher­weise evi­denz­ba­sier­ten Wis­sen­schaft fehlte die Evi­denz. Es gab kaum belast­bare Daten, kaum valide Erkennt­nisse und jene bunte Sta­chel­ku­gel, die zum Signum der Seu­che wurde. So kam es zur Rück­kehr der Emi­nen­zen, einer eigent­lich aus­ge­stor­be­nen Figur des moder­nen Wis­sen­schafts­be­triebs. Ihre per­sön­li­che Erfah­rung war wie­der gefragt; ihre Glaub­wür­dig­keit bestimmte die Exper­tise. Sie beka­men die Deu­tungs­macht und wur­den zu Hütern der Wahr­heit. Viele Beob­ach­ter haben sich damals dar­über gewun­dert, wie sehr diese Krise zur Stunde der Viro­lo­gen wurde. Sie besetz­ten den poli­ti­schen Raum. Von der Poli­tik war lange Zeit wenig zu sehen.

Der Sozio­loge Hol­ger Pfaff hat sich die Fol­gen genauer ange­se­hen, die das für den öffent­li­chen Dis­kurs, aber auch für die Wis­sen­schaft selbst hatte, die für gewöhn­lich ihren Daten ver­traut. Pfaff spricht von einer Krise des Sys­tem­ver­trau­ens, die an den Grund­fes­ten unse­rer moder­nen Medi­zin genauso rüt­telt wie an dem objek­ti­vier­ba­ren Anspruch der Poli­tik. Die Wahr­heit hing von der Über­zeu­gungs­kraft der Ein­zel­nen ab und am Ende vom Votum der Gruppe. Hol­ger Pfaff sieht nicht nur die Rück­kehr des emi­nen­ten Exper­ten, er spricht auch von der Rück­kehr der Clans.

Man mag über­rascht sein, ein so alter­tüm­li­ches Wort in der Wis­sen­schafts­spra­che wie­der­zu­fin­den, aber was Pfaff da beschreibt, geht über den Aus­nah­me­zu­stand die­ser Pan­de­mie weit hin­aus. Wir beob­ach­ten die­sen Pro­zess schon lange: Der öffent­li­che Dis­kurs­raum zer­fällt, eine neue Grup­pen­dy­na­mik bestimmt das Gesche­hen; die Mei­nungs­ge­gen­sätze wer­den schrof­fer, die Äch­tun­gen Anders­den­ken­der auch. Man kennt sol­che Mus­ter aus den sozia­len Medien. Der Viro­loge womög­lich als Influen­cer? Auch diese Rolle ist aus den sozia­len Medien bekannt. Man sieht, wie sich die Ent­wick­lun­gen der digi­ta­len Welt all­mäh­lich in die ana­lo­gen Ver­hält­nisse ein­zu­schlei­chen begin­nen. Was Pfaff beob­ach­tet, ist kein Ein­zel­phä­no­men. Es ist wohl das Signum der Zeit. Wir müs­sen nur nach Ame­rika schauen, um die ver­fein­de­ten Lager zu sehen, die sich dort unver­söhn­lich begeg­nen. Die sozia­len Gegen­sätze sind älter; die Form der Aus­ein­an­der­set­zung ist neu. Von radi­ka­ler Selbst­e­vo­ka­tion spricht der in Ame­rika leh­rende Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Tor­ben Lüt­jen. Nur die Aktion hält die Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen zusam­men. Mit den übli­chen Erklä­rungs­ver­su­chen kommt man nicht wei­ter. In unse­ren porö­sen, hoch indi­vi­dua­li­sier­ten Gesell­schaf­ten wird es mitt­ler­weile als Zumu­tung emp­fun­den, sich von einer Mehr­heits­ge­sell­schaft ver­tre­ten zu las­sen. Die reprä­sen­ta­tive Demo­kra­tie beginnt an Akzep­tanz zu ver­lie­ren: die Idee, dass der eine für den ande­ren spre­chen und der andere womög­lich poli­tisch ent­schei­den darf. Von Tri­ba­li­sie­rung reden die Soziologen.

Der india­nisch-ame­ri­ka­ni­sche Akti­vist, Autor und Poli­tik­wis­sen­schaft­ler Vine Del­oria hat es uns in den frü­hen 1970er Jah­ren vor­aus­ge­sagt. „Nur Stämme wer­den über­le­ben“, hieß in der deut­schen Über­set­zung eines sei­ner bekann­tes­ten Bücher. Ich habe das damals für Eth­nom­um­pitz gehal­ten. Aber am Vor­abend einer gro­ßen Welle der Glo­ba­li­sie­rung drückte diese Pro­phe­zei­ung auch eine Hoff­nung aus. Wie könnte eine Gesell­schaft von mor­gen wohl aus­se­hen, die sich nicht dem anony­men Fort­schritt und abs­trak­ten Herr­schafts­ver­hält­nis­sen über­lässt; die zumin­dest sym­bo­li­sche Nähe ver­sucht und ein Stück Ver­traut­heit und Gemein­schaft bewahrt? Wo ist die­ser ver­nünf­tige Ort, wo das gelingt, wo sich zwi­schen den unab­wend­ba­ren glo­ba­len Her­aus­for­de­run­gen und dem Bedürf­nis ver­mit­teln lässt, bei sich sel­ber zu Hause zu sein? Es ist die Frage nach der eige­nen Hei­mat; aber viel­leicht ist es auch die Frage nach der Zukunft der Nation.

Wir haben uns in Deutsch­land ange­wöhnt, das Thema Nation vor allem nega­tiv sehen zu wol­len. Aber gehen wir damit nicht den Natio­na­lis­ten auf den Leim? Die Ideo­lo­gie des Natio­na­lis­mus, so hat es der fein­sin­nige Hen­ning Rit­ter bemerkt, sei bis heute „das größte Hin­der­nis geblie­ben, das dem Nach­den­ken über die Nation ent­ge­gen­steht“. Viel­leicht sind unsere his­to­ri­schen Las­ten in die­ser Sache wirk­lich zu groß. Viel­leicht stellt sich die Frage auch längst nicht mehr. Es würde sich den­noch loh­nen, dar­über nach­zu­den­ken, warum sich unsere reprä­sen­ta­tive Demo­kra­tie einst im Gewand der moder­nen Nation ent­wi­ckeln konnte. Viel­leicht fehlt uns tat­säch­lich eine libe­rale, welt­of­fene Idee der Nation, um den Flieh­kräf­ten nach innen wie nach außen stand­hal­ten zu kön­nen. Viel­leicht brau­chen wir jetzt eine fried­li­che Vor­stel­lung vom grö­ße­ren Zusam­men­halt aller Men­schen, die bei uns leben und leben wol­len. Nicht zuletzt, um eine Krise zu meis­tern, von der wir gerade heim­ge­sucht wer­den. Von „natio­na­len Anstren­gun­gen“ ist heute die Rede. Ich wüsste gerne, was sich dahin­ter verbirgt.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2020-01/2021.

Von |2021-01-08T10:31:23+01:00Dezember 8th, 2020|Einwanderungsgesellschaft, Grundgesetz, Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Wir brau­chen eine fried­li­che Vor­stel­lung vom grö­ße­ren Zusam­men­halt aller Menschen

Johann Michael Möller ist freier Publizist und Herausgeber der Zeitung "Petersburger Dialog".