Johann Michael Möller 8. Dezember 2020 Logo_Initiative_print.png

Das Signum der Zeit

Wir brau­chen eine fried­li­che Vor­stel­lung vom grö­ße­ren Zusam­men­halt aller Menschen

Wer kann das Thema noch hören? Corona und kein Ende. Das meiste hat man irgendwo schon gelesen, gehört oder aufgeschnappt: Wir reden ständig über Infektionswege und Maskenpflicht, den Inzidenzwert oder Superspreader, hanebüchene Verschwörungstheorien miteingeschlossen, und natürlich der Streit unter Virologen. Je mehr wir erfahren, desto unübersichtlicher wird die Lage. Ich sehne mich fast schon nach der ersten Welle zurück, als es nur Christian Drosten gab und Karl Lauterbach als das besorgte Schlechtwettermännchen vom Dienst. Zwei, die wussten, was Sache ist; oder jedenfalls den Eindruck erweckten. Doch die Bühne begann sich im Laufe der Zeit zu füllen, mit der wohltuend unaufgeregten Melanie Brinkmann, mit Hendrik Streeck, dem jungen Heldentenor; auch die Rolle des Springteufels wurde besetzt. Sie war dem Hallenser Populärvirologen Alexander Kekulé wie auf den Leib geschrieben. Dazu die täglich mahnenden Stimmen aus dem Robert Koch-Institut. Die klangen wie die steinernen Riesen aus dem Märchengarten meiner Kindheit. Wenn ich damals vor ihnen stand, hörte ich sie immer murmeln: Papier, Papier, Papier. In den Monaten des Lockdowns waren sie häufig die wichtigsten Kontakte zur Außenwelt, die man zu sehen bekam, und der Anblick der täglichen Infektionszahlen hatte etwas von Ebbe und Flut.

Ich habe ehrlicherweise nicht mehr damit gerechnet, dass mich das Thema Corona noch einmal verblüffen könnte, bis ich mit dem Kölner Medizinsoziologen Holger Pfaff ins Gespräch kam. Er hat mir die Gegenperspektive eröffnet, die Sicht der Fachleute auf die Pandemie. Die Virologen standen plötzlich im Scheinwerferlicht, aber ihrer üblicherweise evidenzbasierten Wissenschaft fehlte die Evidenz. Es gab kaum belastbare Daten, kaum valide Erkenntnisse und jene bunte Stachelkugel, die zum Signum der Seuche wurde. So kam es zur Rückkehr der Eminenzen, einer eigentlich ausgestorbenen Figur des modernen Wissenschaftsbetriebs. Ihre persönliche Erfahrung war wieder gefragt; ihre Glaubwürdigkeit bestimmte die Expertise. Sie bekamen die Deutungsmacht und wurden zu Hütern der Wahrheit. Viele Beobachter haben sich damals darüber gewundert, wie sehr diese Krise zur Stunde der Virologen wurde. Sie besetzten den politischen Raum. Von der Politik war lange Zeit wenig zu sehen.

Der Soziologe Holger Pfaff hat sich die Folgen genauer angesehen, die das für den öffentlichen Diskurs, aber auch für die Wissenschaft selbst hatte, die für gewöhnlich ihren Daten vertraut. Pfaff spricht von einer Krise des Systemvertrauens, die an den Grundfesten unserer modernen Medizin genauso rüttelt wie an dem objektivierbaren Anspruch der Politik. Die Wahrheit hing von der Überzeugungskraft der Einzelnen ab und am Ende vom Votum der Gruppe. Holger Pfaff sieht nicht nur die Rückkehr des eminenten Experten, er spricht auch von der Rückkehr der Clans.

Man mag überrascht sein, ein so altertümliches Wort in der Wissenschaftssprache wiederzufinden, aber was Pfaff da beschreibt, geht über den Ausnahmezustand dieser Pandemie weit hinaus. Wir beobachten diesen Prozess schon lange: Der öffentliche Diskursraum zerfällt, eine neue Gruppendynamik bestimmt das Geschehen; die Meinungsgegensätze werden schroffer, die Ächtungen Andersdenkender auch. Man kennt solche Muster aus den sozialen Medien. Der Virologe womöglich als Influencer? Auch diese Rolle ist aus den sozialen Medien bekannt. Man sieht, wie sich die Entwicklungen der digitalen Welt allmählich in die analogen Verhältnisse einzuschleichen beginnen. Was Pfaff beobachtet, ist kein Einzelphänomen. Es ist wohl das Signum der Zeit. Wir müssen nur nach Amerika schauen, um die verfeindeten Lager zu sehen, die sich dort unversöhnlich begegnen. Die sozialen Gegensätze sind älter; die Form der Auseinandersetzung ist neu. Von radikaler Selbstevokation spricht der in Amerika lehrende Politikwissenschaftler Torben Lütjen. Nur die Aktion hält die Partikularinteressen zusammen. Mit den üblichen Erklärungsversuchen kommt man nicht weiter. In unseren porösen, hoch individualisierten Gesellschaften wird es mittlerweile als Zumutung empfunden, sich von einer Mehrheitsgesellschaft vertreten zu lassen. Die repräsentative Demokratie beginnt an Akzeptanz zu verlieren: die Idee, dass der eine für den anderen sprechen und der andere womöglich politisch entscheiden darf. Von Tribalisierung reden die Soziologen.

Der indianisch-amerikanische Aktivist, Autor und Politikwissenschaftler Vine Deloria hat es uns in den frühen 1970er Jahren vorausgesagt. „Nur Stämme werden überleben“, hieß in der deutschen Übersetzung eines seiner bekanntesten Bücher. Ich habe das damals für Ethnomumpitz gehalten. Aber am Vorabend einer großen Welle der Globalisierung drückte diese Prophezeiung auch eine Hoffnung aus. Wie könnte eine Gesellschaft von morgen wohl aussehen, die sich nicht dem anonymen Fortschritt und abstrakten Herrschaftsverhältnissen überlässt; die zumindest symbolische Nähe versucht und ein Stück Vertrautheit und Gemeinschaft bewahrt? Wo ist dieser vernünftige Ort, wo das gelingt, wo sich zwischen den unabwendbaren globalen Herausforderungen und dem Bedürfnis vermitteln lässt, bei sich selber zu Hause zu sein? Es ist die Frage nach der eigenen Heimat; aber vielleicht ist es auch die Frage nach der Zukunft der Nation.

Wir haben uns in Deutschland angewöhnt, das Thema Nation vor allem negativ sehen zu wollen. Aber gehen wir damit nicht den Nationalisten auf den Leim? Die Ideologie des Nationalismus, so hat es der feinsinnige Henning Ritter bemerkt, sei bis heute „das größte Hindernis geblieben, das dem Nachdenken über die Nation entgegensteht“. Vielleicht sind unsere historischen Lasten in dieser Sache wirklich zu groß. Vielleicht stellt sich die Frage auch längst nicht mehr. Es würde sich dennoch lohnen, darüber nachzudenken, warum sich unsere repräsentative Demokratie einst im Gewand der modernen Nation entwickeln konnte. Vielleicht fehlt uns tatsächlich eine liberale, weltoffene Idee der Nation, um den Fliehkräften nach innen wie nach außen standhalten zu können. Vielleicht brauchen wir jetzt eine friedliche Vorstellung vom größeren Zusammenhalt aller Menschen, die bei uns leben und leben wollen. Nicht zuletzt, um eine Krise zu meistern, von der wir gerade heimgesucht werden. Von „nationalen Anstrengungen“ ist heute die Rede. Ich wüsste gerne, was sich dahinter verbirgt.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021.

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