Valerie Schönian wurde im Herbst 1990 kurz vor der Wiedervereinigung geboren und wuchs in Magdeburg auf. Für das Studium der Politikwissenschaft und Germanistik zog sie nach Berlin und absolvierte im Anschluss die Deutsche Journalistenschule in München. Momentan lebt sie in Berlin und arbeitet als freie Journalistin u. a. für das Leipziger Büro der ZEIT.
Im März veröffentlichte sie das Buch „Ostbewusstsein“ und geht ihrem Gefühl des Ostdeutsch-Seins auf die die Spur. Bei ihrer Reise durch den Osten der Bundesrepublik will sie herausfinden, was es 30 Jahre nach der Wende mit dem Osten noch auf sich hat und welche Rolle insbesondere die Nachwendegeneration in dieser Debatte spielt.
Vielen Dank, Valerie Schönian, für das Erwecken ein wenig „Ostbewusstseins“ in uns allen und das Streiten für den Osten.
Auf dem Cover des Buches wird im Titel „Ostbewusstsein“ das Wort „Ossi“ farblich hervorgehoben. Kann man 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch vom „Ossi“ – und vom „Wessi“ – sprechen?
Lange dachte ich, es sei mal genug damit. Mittlerweile aber eigne zumindest ich mir das Wort „Ossi“ bewusst an. Warum? Weil das Wort ja nicht verschwunden ist, und die Schublade in unseren Köpfen auf denen „Ossis“ steht, ist mit Klischees, Vorurteilen, Deutschlandfischerhüten gefüllt – auch bei Ostdeutschen selbst. Ich will dem etwas entgegensetzen, damit die Schublade auch mit anderen Dingen gefüllt wird, und widerspiegelt, wie „Ossis“ sind: viele und verschieden.
„Ich bin sehr gern Ossi in einem wiedervereinigten Land.“
Ich finde, eigentlich sollten wir noch viel mehr über die Ostdeutschen und den Osten sprechen – damit die ostdeutsche Perspektive ein ganz selbstverständlicher Teil der gesamtdeutschen wird. Und nur, wenn man über „den Osten“ oder „die Ostdeutschen“ spricht, bedeutet das nicht, dass man behaupten würde, das Land sei gespalten oder wir seien nicht wirklich wiedervereinigt. Wir sind wiedervereinigt, natürlich sind wir das. Aber man kann eben auch über „den Osten“ reden ohne zwei Sätze später gleich über Probleme zu reden.
Anfangs dachte ich, ich möchte so lange über den Osten reden, bis die Unterschiede verschwinden. Mittlerweile denke ich: Wir brauchen zwar die Augenhöhe in politischen, wirtschaftlichen, medialen Fragen. Aber Unterschiede an sich müssen doch nichts Trennendes sein. Ich bin sehr gern Ossi in einem wiedervereinigten Land.
Du hast einmal gesagt: „Je länger die Mauer nicht mehr steht, desto ostdeutscher fühle ich mich.“ Wann und wie hast du dein „Ostbewusstsein“ entdeckt?
Das erste Mal wurden mir bewusst, dass es Unterschiede gibt, als ich nach Berlin ging und Leute traf, die „Kling Klang“ nicht kannten – das Lied der Band „Keimzeit“. Das war aber kein Problem, eher lustig. Anders wurde das, als ich merkte, dass bei einigen Westdeutschen – und auch Ostdeutschen – noch Klischees in der Schublade im Kopf lagen, von denen ich dachte, die gibt’s gar nicht mehr. Das bemerkte ich das erste Mal, als ich in München studierte und zeitgleich, im Jahr 2014, Pegida begann in Dresden zu marschieren – auch ich stand auf der Gegendemo. Aber der Unterschied: Meine Mit-Demonstranten verurteilten da nicht nur Rechtsextreme, sondern gefühlt einen ganzen Landesteil; den Landesteil, aus dem ich komme. Da begann meine Ossi-Werdung – die sich immer noch fortsetzt. Zuerst war es das Bedürfnis nach Verteidigung, dann Trotz, jetzt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit mir und anderen, die aus diesem Landesteil kommen.
„Wo noch nicht alles fertig ist, kann noch Neues entstehen.“
Im Buch kommst du immer wieder auf Freiräume zu sprechen, die die ostdeutschen Bundesländer bieten. Was ist deiner Meinung nach das besondere Potential dieser Freiräume?
Früher wurden die freien Häuser, die Brachflächen in Ostdeutschland als Leere betrachtet, aber eigentlich sind sie das nicht, zumindest nicht nur – sie sind immer auch eine Möglichkeit. Wo noch nicht alles fertig ist, kann noch Neues entstehen; kann neu gedacht werden; kann Gegebenes infrage gestellt werden. Da steckt ganz viel kreatives und utopisches Potential drin – das ist für mich persönlich einer der besten Seiten Ostdeutschlands. Und genau das zieht auch viele Kreative an, die den Freiraum gestalten wollen.
Seit Mai 2019 gibt es die Podcastserie „Wie war das im Osten?“ von ZEIT ONLINE. Gemeinsam mit dem Journalisten Michael Schlieben redet ihr über das Leben in und nach der DDR. Wie entstand die Idee zu diesem Podcast und was passiert da genau?
Die Idee war, mal die Menschen über die DDR sprechen zu lassen, die auch dort gelebt haben. Also keine Experten, Wissenschaftlerinnen, Politiker – sondern Lehrerinnen, Verkäuferinnen, Ärztinnen. Wir laden sie ein, um uns von ihrem ganz persönlichen Leben zu erzählen und an diesem Leben Geschichte zu zeigen. Denn so verschieden sie sind, eines haben alle unsere Gäste gemeinsam: Sie haben die Transformation erlebt. Noch vor 30 Jahren lebten sie in einem anderen System! Das muss man sich mal klarmachen, wie irre ist das eigentlich! Ich finde, wir können alle noch viel mehr von diesen Erfahrungen hören und davon lernen.
Die 15 Thesen der Initiative kulturelle Integration tragen den Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“. Was bedeutet für dich „Zusammenhalt in Vielfalt“ und welche der 15 Thesen ist deine „Lieblingsthese“?
Dass wir uns ruhig unsere Unterschiedlichkeit zugestehen können. Unterschiede müssen nichts Trennendes sein. Fantastisch wäre doch, wenn nicht jede Benennung eines Unterschiedes – in Sozialisation, Kultur, Geschichte, Perspektive – gleich immer so verstanden wird, als würde man sich von anderen abgrenzen wollen. Es geht einfach um Sichtbarmachung.
„Unterschiede müssen nichts Trennendes sein.“
Deswegen gefällt mir auch die These 7 „Einwanderung und Integration gehören zu unserer Geschichte“ besonders gut – Deutschland ist vielfältig. Es gibt ganz viele Parallelerzählungen, die sich von der gesamtgesellschaftlichen Haupterzählung unterscheiden, aber oft übersehen werden. Dazu zählt die ostdeutsche Parallelerzählung, aber auch die vietdeutsche, türkischdeutsche, afrodeutsche – viele, viele andere.
Vielen Dank!