Im Haus der frem­den Sprachen

Das Euro­päi­sche Über­set­zer-Kol­le­gium Nord­rhein-West­fa­len in Straelen

„Flach­land & Nach­schla­ge­werke“, so defi­nierte der Schrift­stel­ler und Über­set­zer Arno Schmidt sei­nen Traum vom schöns­ten Ort auf Erden, und so könnte auch das Motto des Euro­päi­schen Über­set­zer-Kol­le­gi­ums Nord­rhein-West­fa­len in Strae­len lau­ten: Umge­ben von der topf­ebe­nen Park­land­schaft des Nie­der­rheins liegt die Klein­stadt Strae­len, die das welt­weit größte Arbeits­zen­trum für lite­ra­ri­sche Über­set­zer beher­bergt und somit auch die umfang­reichste Spe­zi­al­bi­blio­thek für den Berufs­stand der Über­set­zer inter­na­tio­nal: eine 125.000-bändige Biblio­thek mit 35.000 Nach­schla­ge­wer­ken in 275 Spra­chen und Dia­lek­ten – von Avesta bis Zulu –, eine 65.000-bändige Biblio­thek mit Wer­ken der Welt­li­te­ra­tur – meist in Ori­gi­nal und Über­set­zung – und 25.000 Sachbücher.

Am Anfang hatte eine Vision gestan­den: Eine Begeg­nungs­stätte für lite­ra­ri­sche Über­set­zer zu schaf­fen, einen Ort des kos­mo­po­li­ti­schen Aus­tauschs ebenso wie der konzen­trierten Arbeit, ein Haus vie­ler unter­schied­li­cher Schrift­kul­tu­ren mit­ten in einer Grenz­re­gion. Das unter der Schirm­herr­schaft von Hein­rich Böll, Max Frisch und Samuel Beckett am 10. Januar 1978 gegrün­dete Kol­le­gium ist ganz auf die Bedürf­nisse lite­ra­ri­scher Über­set­zer zuge­schnit­ten. Auf 2.700 Qua­drat­me­tern Wohn­flä­che ste­hen – neben Biblio­theks- und Tagungs­räu­men und meh­re­ren Küchen – ins­ge­samt 27 Appar­te­ments zum Woh­nen und Arbei­ten zur Ver­fü­gung, die jähr­lich von über 500 Gäs­ten aus mehr als 50 Län­dern genutzt werden.

Die ins­ge­samt sechs Häu­ser rei­hen sich um einen zen­tra­len glas­über­dach­ten Hof, wo die Bestände der Biblio­thek ihren Aus­gang neh­men, um sich über das Gale­rie­ge­schoss, durch Stie­gen­häu­ser und Kor­ri­dore, nach Spra­chen geord­net, und wei­ter bis in die Zim­mer zu ver­zwei­gen, deren jedes ein bestimm­tes Sach­ge­biet auf­nimmt. Kei­nes der 27 Appar­te­ments gleicht dem ande­ren, man­che sind zwei­ge­schos­sig, andere so lang wie ein Ball­saal, alle mit Schreib­ti­schen und Com­pu­tern ausgestattet.

Die Gäste des Kol­le­gi­ums kom­men aus allen Tei­len der Welt. Sie kom­men natür­lich aus Deutsch­land, aber auch Bra­si­lien, China, Israel, Mexiko, Polen, Russ­land oder Viet­nam. Und sie blei­ben zwi­schen sechs Wochen und drei Mona­ten, man­che aber auch nur übers Wochen­ende zum Recherchieren.

Auf den ers­ten Blick hat das Kol­le­gium etwas Klös­ter­li­ches. Viel­leicht liegt es an dem Innen­hof der Biblio­thek, der wie ein spa­ni­scher Kreuz­gang anmu­tet, oder an der Stille, die den Besu­cher emp­fängt. Tat­säch­lich bie­tet das Kol­le­gium sei­nen Gäs­ten jedoch die Mög­lich­keit, das Kli­schee des Über­set­zers im stil­len Käm­mer­lein Lügen zu stra­fen. Finan­ziert wird das Kol­le­gium übri­gens haupt­säch­lich vom Minis­te­rium für Kul­tur und Wis­sen­schaft des Lan­des Nord­rhein-West­fa­len, das die gesam­ten Betriebs­kos­ten trägt.

Über 35.000 Über­set­zun­gen wur­den in den 40 Jah­ren erar­bei­tet: Bei­spiels­weise wur­den in Strae­len Gün­ter Grass’ „Wei­tes Feld“ ins Por­tu­gie­si­sche, Fried­rich Nietz­sche ins Korea­ni­sche, Michael Endes „Unend­li­che Geschichte“ ins Est­ni­sche und Lud­wig Witt­gen­stein ins Per­si­sche übersetzt.

Herz­stück des Kol­le­gi­ums bil­det die rund um die Uhr zugäng­li­che Biblio­thek, die spe­zi­ell auf die Bedürf­nisse lite­ra­ri­scher Über­set­zer aus­ge­rich­tet ist.

Wer selbst schon ein­mal ver­sucht hat, eine Kurz­ge­schichte ins Deut­sche zu über­tra­gen, wird rasch gemerkt haben, dass lite­ra­ri­sches Über­set­zen dort anfängt, wo einen die Stan­dard­le­xika im Stich las­sen. Denn was tun, wenn im Text Erfah­run­gen auf­tau­chen, die der Autor in der Pfer­de­zucht, im Gei­gen­bau oder in der Ero­tik-Szene gesam­melt hat und sich das ganz selbst­ver­ständ­lich im Wort­schatz eines Romans nie­der­schlägt? Lite­ra­ri­sche Über­set­zer sind daher eine beson­dere Benut­zer­gruppe. Sie inter­es­sie­ren sich nicht für ein klar defi­nier­tes Fach­ge­biet oder einen bestimm­ten The­men­kreis. Ihre Recher­chen decken fast den gesam­ten Wis­sens­kos­mos ab. Je nach der im Roman abge­bil­de­ten – oder kon­sti­tu­ier­ten – Wirk­lich­keit müs­sen sich Über­set­zer dann inner­halb kür­zes­ter Zeit in ver­schie­denste Fach­spra­chen ein­ar­bei­ten, Sach­ver­halte aus allen Kul­tur- und Lebens­be­rei­chen klä­ren und Zitate aus obsku­ren Quel­len ermitteln.

Gesam­melt wer­den daher vor allem ein- und mehr­spra­chige Enzy­klo­pä­dien und All­ge­mein­wör­ter­bü­cher in grund­sätz­lich allen Spra­chen und Dia­lek­ten sowie eine Viel­zahl fach­ter­mi­no­lo­gi­scher Nach­schla­ge­werke aus nahezu allen Berei­chen und Epo­chen: z. B. Lite­ra­tur­le­xika, Bibel- und Lied­kon­kor­dan­zen, tech­ni­sche Fach­wör­ter­bü­cher wie das 17-spra­chige Beer­di­gungs­fach­wör­ter­buch – aber auch Wort­lis­ten vom Waid­werk bis zur christ­li­chen See­fahrt, Knast- und Jugend­spra­che, viel­spra­chige Ver­sand­ka­ta­loge und vie­les mehr. Das Inter­net ist natür­lich ein wich­ti­ges Recher­che-Instru­ment, und das Kol­le­gium ver­fügt daher auch über eine sehr gute tech­ni­sche Aus­stat­tung. Nichts­des­to­trotz fußt ein sehr wich­ti­ger Teil der Recher­che auf dem tra­di­tio­nel­len Biblio­theks­be­stand. Die Prä­senz­bi­blio­thek des Kol­le­gi­ums ist übri­gens 365 Tage im Jahr rund um die Uhr den im Haus woh­nen­den Gäs­ten zugäng­lich, was zu unkon­ven­tio­nel­len Arbeits­zei­ten führt, zumal die Biblio­thek zur Zunft der „One-Per­son-Libra­ries“ gehört.

Die­ser Bei­trag ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 10/2019.

Von |2019-10-09T14:09:19+02:00September 27th, 2019|Sprache|Kommentare deaktiviert für

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Das Euro­päi­sche Über­set­zer-Kol­le­gium Nord­rhein-West­fa­len in Straelen

Regina Peeters ist Geschäftsführerin des Europäischen Übersetzer-Kollegiums Nordrhein-Westfalen in Straelen e.V.