(Vor-)Lesen für alle

Der Königs­weg der Sprachförderung

Vor­le­sen ist die beste Sprach­för­de­rung. Kin­der, denen regel­mä­ßig vor­ge­le­sen wird, haben einen mess­bar grö­ße­ren Wort­schatz und bes­sere Noten als andere, nicht nur in Deutsch. Aber Stu­dien zei­gen: In fast jeder drit­ten Fami­lie gehört das Vor­le­sen nicht zum All­tag. Und jeder fünfte Viert­kläss­ler erreicht beim Lesen nicht die Kom­pe­tenz­stufe, die es braucht, um einen Text auch zu verstehen.

Rech­ne­risch sind das weit mehr als 100.000 Kin­der – pro Jahr­gang, denn auch Unter­su­chun­gen zu ande­ren Alters­grup­pen kom­men regel­mä­ßig zu ähn­li­chen Ergeb­nis­sen. Gerade erst ist die neue LEO-Grund­bil­dungs­stu­die erschie­nen: Immer noch kön­nen mehr als sechs Mil­lio­nen Erwach­sene maxi­mal ein­zelne Wör­ter und Sätze, aber keine gan­zen Texte lesen und erfas­sen, mit allen Kon­se­quen­zen für die per­sön­li­che Ent­wick­lung der betrof­fe­nen Men­schen, von den gesell­schaft­li­chen Fol­gen ganz zu schweigen.

Deut­sche Grund­schü­ler haben im inter­na­tio­na­len Ver­gleich zuletzt sogar schlech­ter abge­schnit­ten als noch einige Jahre zuvor, die Leis­tungs­un­ter­schiede und Bedeu­tung der sozia­len Her­kunft neh­men zu. In kei­nem Land ist der Vor­sprung von Kin­dern aus Fami­lien mit mehr als 100 Büchern im Haus­halt grö­ßer als in Deutsch­land. Er beträgt mehr als ein Lernjahr.

Da passt es ins Bild, dass der Buch­han­del im Som­mer 2018 Alarm schlug: Mil­lio­nen Käu­fer seien der Bran­che in den letz­ten Jah­ren ver­lo­ren gegan­gen. Steht uns die wahre Ero­sion des Bil­dungs­stand­orts – und der Kul­tur­na­tion – also erst bevor? Eine sol­che Pro­gnose fügt sich naht­los ein in die gro­ßen gesell­schafts- und wirt­schafts­po­li­ti­schen Dis­kurse der Zeit. Ob Lese­kom­pe­tenz, Digi­ta­li­sie­rung oder E-Mobi­li­tät – Deutsch­land ver­liert den Anschluss.

Diese Naht­lo­sig­keit macht aber auch miss­trau­isch. Kul­tur­pes­sis­mis­mus hat in Deutsch­land bekann­ter­ma­ßen Tra­di­tion. Im Kai­ser­reich führte die Wucht der Ver­än­de­run­gen nach Joa­chim Rad­kau zu einem „Zeit­al­ter der Ner­vo­si­tät“. Gerade erst hat Frank Biess die west­deut­sche Nach­kriegs­ge­schichte unter dem Titel „Repu­blik der Angst“ erzählt, vol­ler Bei­spiele für die inter­na­tio­nal schon län­ger dia­gnos­ti­zierte „Ger­man Angst“.

Nur ist Angst kein guter Rat­ge­ber. Viel­leicht droht nicht unaus­weich­lich der Unter­gang des Abend­lan­des, son­dern liegt ein­fach die Lese­för­de­rung im Argen. Es lohnt sich, die ein­gangs erwähnte Grund­schul-Lese-Unter­su­chung IGLU etwas genauer zu lesen. Auf Seite 280 heißt es darin: „Gefragt, wie viel Zeit sie in einer nor­ma­len Schul­wo­che spe­zi­ell für Lese­un­ter­richt und/oder Lese­ak­ti­vi­tä­ten der Schü­le­rin­nen und Schü­ler ver­wen­den, geben die Lehr­kräfte im Mit­tel drei Schul­stun­den an“ und „Umge­rech­net auf das Schul­jahr erge­ben sich, abso­lut betrach­tet, etwa 90 Stun­den für expli­zi­ten Lese­un­ter­richt, auch über Fächer­gren­zen hin­weg. Der inter­na­tio­nale Mit­tel­wert liegt weit dar­über, näm­lich bei knapp 160 Stunden.“

Hat der PISA-Schock vor bald 20 Jah­ren Deutsch­land nicht wach­ge­rüt­telt und sind wir laut Angela Mer­kel nicht seit über zehn Jah­ren auf dem Weg zur „Bil­dungs­re­pu­blik“? Was wir brau­chen, sind keine wei­te­ren media­len Auf­schreie oder Lip­pen­be­kennt­nisse zum Stel­len­wert von Bil­dung. Nötig ist ein von Bund und Län­dern koor­di­nier­ter Lese­pakt, der die Sprach-, Lese- und Medi­en­kom­pe­tenz­för­de­rung in Deutsch­land kurz­fris­tig, aber nach­hal­tig stärkt – ohne gedruckte und digi­tale Ange­bote gegen­ein­an­der auszuspielen.

Die Maß­nah­men dür­fen nicht erst bei den Lehr­plä­nen und in der Unter­richts­pra­xis anset­zen, son­dern müs­sen bereits die Vor­schule und Fami­lie in den Blick neh­men. Mitt­ler­weile gibt es ein Bun­des­pro­gramm namens „Sprach-Kitas“ und vom Buch­han­del und den Biblio­the­ken aus­ge­zeich­nete Buch­kin­der­gär­ten. Bei­des ist wich­tig, aber: Bis 2016 gab es etwas mehr als 3.400 Sprach-Kitas, bei rund 50.000 Ein­rich­tun­gen bun­des­weit. Auf der Web­seite des Pro­gramms heißt es: „Mit der Anhe­bung der Mit­tel ab 2017 (…) kön­nen ins­ge­samt rund 7.000 zusätz­li­che halbe Fach­kraft­stel­len in Kitas und in der Fach­be­ra­tung geschaf­fen wer­den.“ Das ist mehr als ein Trop­fen, wird den hei­ßen Stein jedoch nicht dau­er­haft küh­len, zumal die Fach­kräfte nicht auf den Bäu­men wachsen.

Auch die Inhalte einer „gepfleg­ten Kin­der­gar­ten-Büche­rei“ – eins der Kri­te­rien für das Güte­sie­gel Buch­kin­der­gar­ten – müs­sen am Ende vor­ge­le­sen wer­den. Zum Glück boo­men in Deutsch­land indi­vi­du­el­les Ehren­amt und Cor­po­rate Social Respon­si­bi­lity. Allein der Ver­ein Ber­li­ner Kauf­leute und Indus­tri­el­ler koor­di­niert mitt­ler­weile mehr als 2.200 Lese- und Lern­pa­ten in der Haupt­stadt. Er musste sich aber auch schon aus Ein­rich­tun­gen zurück­zie­hen, um dort tätig zu sein, wo die Not am größ­ten ist. Viel­leicht ist es an der Zeit, gesell­schaft­li­ches Enga­ge­ment flä­chen­de­ckend zu erleich­tern, z. B. durch eine staat­lich geför­derte und allen Arbeit­neh­mern zugäng­li­che Frei­stel­lung. Das ent­las­tet die Unter­neh­men, die sich bereits jetzt enga­gie­ren, und nimmt die ande­ren in die Pflicht. Und es über­brückt die Zeit, bis die Maß­nah­men zur Stär­kung des Erzie­her­be­rufs in Neu­ein­stel­lun­gen mün­den und neue Lehr­pläne die Unter­richts­pra­xis ändern.

Vor­le­sen ist der Königs­weg bei der Sprach- und Lese­för­de­rung, sind sich Päd­ago­gen und Wis­sen­schaft­ler einig, und es ist im bes­ten Sinne nied­rig­schwel­lig für alle Betei­lig­ten. Die Stif­tung Lesen for­dert, dass jedem Kind am bes­ten täg­lich min­des­tens 15 Minu­ten vor­ge­le­sen wird. In Zei­ten des Fach­kräf­te­man­gels ist es ein ebenso wich­ti­ges Ziel, dass jeder Erwach­sene zum Vor­le­ser wird, ob für die eige­nen Kin­der oder die in der Nach­bar­schaft. Denn das Zeit­al­ter der Digi­ta­li­sie­rung bleibt mehr denn je auch ein Zeit­al­ter des Lesens, in allen Medien, unab­hän­gig von der Ent­wick­lung am Buch­markt. Jedes Kind in Deutsch­land ver­dient es, dar­auf vor­be­rei­tet zu wer­den, mit mehr (Vor-)Lesezeit daheim, in der Kita und in der Schule. Wenn alle mit­wir­ken, ist kurz­fris­tig Ver­än­de­rung mög­lich, mit nach­hal­ti­gem Effekt.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2019.

Von |2019-06-14T17:13:58+02:00Mai 27th, 2019|Sprache|Kommentare deaktiviert für

(Vor-)Lesen für alle

Der Königs­weg der Sprachförderung

Jörg F. Maas ist Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen.