Sprach­fä­hig­keit, Mün­dig­keit und Teilhabe

Die Bedeu­tung der Luther’schen Bibel­über­set­zung für Iden­ti­tät und Integration

„Mord an Luther“ dia­gnos­ti­zierte Wal­ter Jens, als die revi­dierte Fas­sung des deut­schen Bibel­tex­tes 1975 auf den Markt kam. Der Tübin­ger Rhe­to­rik­pro­fes­sor, würde er noch leben, hätte heute hin­ge­gen Grund zur Freude, da die Luther­bi­bel in ihrer Fas­sung von 2017 die frü­he­ren revi­sio­nis­ti­schen Ein­griffe mög­lichst umfas­send tilgte und sich so weit als mög­lich – d. h. ver­ständ­lich – der ursprüng­li­chen Über­set­zung näherte. Diese wurde von Fried­rich Nietz­sche als „bis­her das beste deut­sche Buch“ beur­teilt, eben bis er selbst, so der selbst­ge­stellte Anspruch, mit sei­nem „Zara­thus­tra“ die­sen Platz ein­neh­men wollte. Dass das Erschei­nen der Bibel­über­set­zung Luthers im Sep­tem­ber 1522 eine zen­trale Etappe in der deut­schen Sprach­ge­schichte dar­stellt, ist unbe­strit­ten und wird gern mit der Fülle der von Luther gepräg­ten Wör­ter und Wen­dun­gen mehr illus­triert als belegt: von „Denk­zet­tel“ bis „Lock­vo­gel“, von „Lücken­bü­ßer“ bis „Richt­schnur“, von „Per­len vor die Säue wer­fen“ bis zum „Wolf im Schafs­pelz“, von „mit Feu­er­ei­fer dabei sein“ bis „sein Licht nicht unter den Schef­fel stel­len“. 1975 wurde übri­gens das Getrei­de­maß Schef­fel durch Eimer ersetzt, was die­ser Bibel­aus­gabe den Titel „Eimer­te­s­ta­ment“ ein­brachte und sie voll­ends dis­kre­di­tierte. Jetzt hin­ge­gen heißt es „Mehr Luther“, da die neue über­ar­bei­tete Luther­bi­bel sich über 15.000 Mal für den alten Luther­text und gegen die Revi­sion ent­schei­det, immer mit dem Anspruch, neben der Rich­tig­keit auch die Poe­sie der luthe­ri­schen Spra­che zu erhal­ten. Die heute außer­all­täg­li­che klang­volle Spra­che Luthers mag Sprach­äs­the­ten begeis­tern, doch ein kul­tur­po­li­ti­sches Pro­jekt scheint sie kaum begrün­den zu kön­nen. Hier kommt Luthers Impuls zur Über­set­zung ins Spiel, da er nicht als Lin­gu­ist oder Poet, so sehr er selbst auch virtuo­ser Sprach­künst­ler war, die Bibel über­setzte, son­dern als rebel­li­scher Gesell­schafts­re­for­mer, der Wahr­heit poten­zi­ell allen ver­füg­bar machen wollte, um so das Inter­pre­ta­ti­ons­mo­no­pol selbst ernann­ter Spe­zia­lis­ten durch all­ge­mei­nen Zugriff auf die Texte zu unterlaufen.

Zugrunde liegt das Kon­zept des „Pries­ter­tums aller Gläu­bi­gen“, das den Unter­schied von Pries­ter und Laie auf­hebt und alle zum mün­di­gen Spre­chen ermäch­tigt. Man­cher musste dies schon damals mit Gefäng­nis bezah­len, etwa als um 1524 ein Zuhö­rer die Mari­en­pre­digt eines Pries­ters unter­brach, nach der bibli­schen Grund­lage der Aus­füh­run­gen fragte und, statt eine Ant­wort zu bekom­men, abge­führt wurde. Seit Luther ist übri­gens der Gemeinde auch die Mög­lich­keit zum Sin­gen gege­ben, was vor der Refor­ma­tion den Chö­ren vor­be­hal­ten war, bis die neuen volks­sprach­li­chen Lie­der zur akti­ven Mit­wir­kung ein­lu­den. Der Gesang aller wurde von man­chem als Gefahr gese­hen, etwa von einem Bür­ger­meis­ter in Lemgo, der sei­nen Stadt­die­ner in die Kir­che schi­cken ließ und auf des­sen Aus­kunft: „Herr Bür­ger­meis­ter, sie sin­gen alle“, erschüt­tert aus­rief: „Ei, alles verloren!“

Ein Nach­den­ken über die Prä­senz und Wir­kung von Luthers Bibel­über­set­zung wird des­halb sei­nen Fokus nicht nur auf die Spra­che rich­ten, etwa auf ihre Bedeu­tung für Iden­ti­tät und Inte­gra­tion, son­dern auch auf das Spre­chen und damit auf die Sprach­fä­hig­keit, auf Mün­dig­keit und Teil­habe. Dann könnte das „beste deut­sche Buch“ auch heute eine Debatte initi­ie­ren, die gegen Fake News auf den, auch bil­dungs­po­li­ti­schen, Idea­len einer „redak­tio­nel­len Gesell­schaft“ – einer Uto­pie des Medi­en­wis­sen­schaft­lers Bern­hard Pörk­sen – insistiert.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 05/2019.

Von |2019-06-14T17:04:42+02:00Mai 24th, 2019|Sprache|Kommentare deaktiviert für

Sprach­fä­hig­keit, Mün­dig­keit und Teilhabe

Die Bedeu­tung der Luther’schen Bibel­über­set­zung für Iden­ti­tät und Integration

Stefan Rhein ist Direktor der Stiftung Luthergedenkstätte.