Ein­fach und kraftvoll

Die Idee der Menschenrechte

Jeder Mensch hat Men­schen­rechte, über­all. Das erscheint heute selbst­ver­ständ­lich. Schließ­lich bezeu­gen die All­ge­meine Erklä­rung der Men­schen­rechte, zahl­rei­che Men­schen­rechts­ver­träge und das Grund­ge­setz die Gel­tung der Men­schen­rechte. Keine Selbst­ver­ständ­lich­keit sind die Men­schen­rechte jedoch in der Wirk­lich­keit. Welt­weit wer­den Men­schen­rechte mas­siv ver­letzt, und es wer­den die Stim­men lau­ter, die die Men­schen­rechte rund­weg ableh­nen. Zum 70. Jah­res­tag der All­ge­mei­nen Erklä­rung wird deut­li­cher denn je, dass die Men­schen­rechte immer wie­der bekräf­tigt und behaup­tet wer­den müs­sen – über­all in der Welt und auch hierzulande.

Die Grund­idee der Men­schen­rechte ist so ein­fach wie kraft­voll: Jeder Mensch hat auf­grund sei­nes Mensch­seins Rechte gegen den Staat. Diese Rechte, die Men­schen­rechte, ermög­li­chen ein selbst­be­stimm­tes Leben. Nie­mand, auch und gerade der Staat nicht, ist berech­tigt, einem Men­schen vor­zu­schrei­ben, wel­chen Zweck sein Leben hat oder was ein gutes Leben ist. Viel­mehr hat jeder Mensch ein Recht dar­auf, sei­nem Leben selbst einen Sinn zu geben. Das ist der Kern der Men­schen­würde, in der die Men­schen­rechte wurzeln.

Die Men­schen­rechte sind nicht vom Staat ver­lie­hen, son­dern vor­staat­lich. Sie zu ach­ten, zu schüt­zen und zu gewähr­leis­ten, ist der zen­trale Zweck und die ver­bind­li­che Auf­gabe eines jeden Staa­tes. Denn der Staat ist um des Men­schen wil­len da, nicht der Mensch um des Staa­tes wil­len, wie es der Her­ren­chiem­seer Ent­wurf für das Grund­ge­setz so tref­fend for­mu­lierte. Staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät ist des­halb nicht abso­lut, son­dern stets men­schen­recht­lich gebun­den. Die Men­schen­rechte sind ver­bind­li­cher Maß­stab und Grenze für den Staat, da die­ser die Macht­mit­tel hat, um Men­schen­rechte zu ver­let­zen, und zugleich auch, um sie zu schützen.

Men­schen­würde muss man sich nicht ver­die­nen; sie wohnt dem Mensch­sein inne. Folg­lich sind die Men­schen­rechte auch nicht von einem bestimm­ten vor­he­ri­gen Ver­hal­ten abhän­gig; ins­be­son­dere set­zen sie nicht vor­aus, dass man Pflich­ten gegen­über dem Staat erfüllt oder die Men­schen­rechte ande­rer geach­tet hat. Daher sind die Men­schen­rechte nicht von der Staats­an­ge­hö­rig­keit abhän­gig, und daher hat auch der schlimmste Ver­bre­cher die­sel­ben Men­schen­rechte wie ein rechts­treuer Mensch.

Men­schen­rechte ver­lan­gen, dass Poli­tik, Ver­wal­tung und Gerichte sich an ihnen aus­rich­ten. Sie wer­den zur Bewäh­rungs­probe für den Staat, wo es um den Schutz der Schwa­chen oder der Aus­ge­schlos­se­nen geht, wo die Tyran­nei der Mehr­heit droht oder Macht­miss­brauch der Exe­ku­tive, oder wo tat­säch­li­che oder behaup­tete Gemein­in­ter­es­sen mit indi­vi­du­el­len Rech­ten kollidieren.

Die All­ge­meine Erklä­rung der Menschenrechte

Am 10. Dezem­ber 1948 pro­kla­mierte die UN-Gene­ral­ver­samm­lung fei­er­lich die All­ge­meine Erklä­rung der Men­schen­rechte als gemein­same Richt­schnur, auch genannt „com­mon stan­dard of achie­ve­ment“. 70 Jahre danach hat die Erklä­rung nichts von ihrer Aktua­li­tät ver­lo­ren. Nach wie vor ist sie die Grund­lage für die welt­weite Aner­ken­nung der Men­schen­rechte und für die For­de­rung nach deren Verwirklichung.

Die All­ge­meine Erklä­rung umfasst alle Kate­go­rien von Men­schen­rech­ten. Sie pro­kla­miert die bür­ger­li­chen und poli­ti­schen Men­schen­rechte – etwa die Mei­nungs-, Ver­samm­lungs- und Ver­ei­ni­gungs­frei­heit, die Reli­gi­ons- und Welt­an­schau­ungs­frei­heit, das Recht von Staats­bür­gern auf poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­tion, das Recht auf Ehe und Fami­lie, auf Eigen­tum, auf Asyl sowie das Recht, Rechte zu haben. Hierin zeigt sich beson­ders, dass die All­ge­meine Erklä­rung unter dem Ein­druck der Mensch­heits­ver­bre­chen des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­lands ent­stand und auch eine Reak­tion auf diese ist. Sie pro­kla­miert fer­ner wirt­schaft­li­che, soziale und kul­tu­relle Rechte, etwa das Recht auf Bil­dung, Gesund­heit, Woh­nen und Nah­rung sowie das Recht zu arbei­ten und Rechte in der Arbeit. Zudem ver­bie­tet sie Dis­kri­mi­nie­rung, ins­be­son­dere auf­grund ras­sis­ti­scher Zuschrei­bun­gen, des Geschlechts oder der Religion.

Die All­ge­meine Erklä­rung wurde in der UN-Men­schen­rechts­kom­mis­sion von Men­schen aus aller Welt, ver­schie­dens­ter Her­kunft, Kul­tur, Reli­gion und phi­lo­so­phi­scher Tra­di­tion, for­mu­liert. Sie ver­mei­det bewusst jede aus­drück­li­che Anknüp­fung an Reli­gion, Phi­lo­so­phie oder Tra­di­tion, um ihren welt­wei­ten Gel­tungs­an­spruch zu stär­ken. Die All­ge­meine Erklä­rung bekräf­tigt, dass die Men­schen­rechte uni­ver­sell sind: Sie gel­ten für alle Men­schen, weil sie Men­schen sind, und sie gel­ten jeder­zeit und über­all. In den Wor­ten ihres ers­ten Arti­kels: „Alle Men­schen sind frei und gleich an Rech­ten und Würde geboren.“

Die All­ge­meine Erklä­rung wurde als Reso­lu­tion der UN-Gene­ral­ver­samm­lung von den damals 59 UN-Mit­glied­staa­ten ver­ab­schie­det – nur gegen die Stimme Süd­afri­kas. Aller­dings fehl­ten damals große Teile der noch kolo­nial beherrsch­ten Welt. Doch bereits 1955 bekann­ten sich auf der Kon­fe­renz von Bandung die Ver­tre­ter von 29 ehe­ma­li­gen Kolo­nien und 30 Befrei­ungs­be­we­gun­gen zu den Men­schen­rech­ten und ver­wie­sen auf die All­ge­meine Erklä­rung als gemein­same Richt­schnur. Auf der Wie­ner Welt­kon­fe­renz über Men­schen­rechte haben die Staa­ten der Welt 1993 ihr Bekennt­nis zu den in der All­ge­mei­nen Erklä­rung nie­der­ge­leg­ten Men­schen­rech­ten gemein­sam erneuert.

Die All­ge­meine Erklä­rung der Men­schen­rechte wird als koper­ni­ka­ni­sche Wende des Völ­ker­rechts ange­se­hen: Sie stellt den Men­schen in den Mit­tel­punkt der inter­na­tio­na­len Ord­nung und gibt ihm Rechte gegen den Staat. Denn ohne Aner­ken­nung der glei­chen Men­schen­würde und der unver­äu­ßer­li­chen Men­schen­rechte aller Men­schen gibt es keine Frei­heit, keine Gerech­tig­keit und kei­nen Frie­den in der Welt. Das betont auch das Grundgesetz.

Fort­ent­wick­lung der Menschenrechte

Die All­ge­meine Erklä­rung der Men­schen­rechte ist nicht recht­lich bin­dend. Das hat ihrer Wir­kung jedoch kei­nen Abbruch getan. Sie bil­det den unan­ge­foch­te­nen Maß­stab für den Schutz der Men­schen­rechte welt­weit. Sie gab den Anstoß dafür, Men­schen­rechte in natio­na­len Ver­fas­sun­gen, dar­un­ter dem Grund­ge­setz, und in inter­na­tio­na­len Ver­trä­gen ver­bind­lich fest­zu­schrei­ben. Neben den neun UN-Men­schen­rechts­ver­trä­gen exis­tie­ren heute wei­tere Men­schen­rechts­ver­träge für den ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, Europa und Afrika, über deren Ein­hal­tung regio­nale Men­schen­rechts­ge­richts­höfe wachen. Für das Europa von Reykja­vik bis Wla­di­wos­tok ist dies die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­tion mit dem Euro­päi­schen Gerichts­hof für Men­schen­rechte in Straßburg.

Für den inter­na­tio­na­len Men­schen­rechts­schutz zen­tral sind der Inter­na­tio­nale Pakt über wirt­schaft­li­che, soziale und kul­tu­relle Rechte und der Inter­na­tio­nale Pakt über bür­ger­li­che und poli­ti­sche Rechte von 1966. Zusam­men mit der All­ge­mei­nen Erklä­rung wer­den sie oft als „inter­na­tio­nale Men­schen­rechts­charta“ bezeich­net. Die bei­den Welt­pakte garan­tie­ren die in der All­ge­mei­nen Erklä­rung pro­kla­mier­ten Rechte, mit Aus­nahme des Rechts auf Asyl und auf Eigen­tum. Und prak­tisch wich­tig: Sie kon­kre­ti­sie­ren die Maß­stäbe für deren Beschrän­kung. Die Auf­spal­tung in zwei Ver­träge war den poli­tisch-ideo­lo­gi­schen Grä­ben in der Zeit der Ost-West-Kon­fron­ta­tion geschul­det. Erst in der Wie­ner Welt­men­schen­rechts­kon­fe­renz wurde die­ser Gra­ben über­wun­den, indem die Staa­ten die Unteil­bar­keit, Inter­de­pen­denz und Wech­sel­be­züg­lich­keit aller Men­schen­rechte anerkannten.

Wei­tere UN-Men­schen­rechts­ver­träge betra­fen ras­sis­ti­sche Dis­kri­mi­nie­rung und die Dis­kri­mi­nie­rung von Frauen, die Men­schen­rechte von Kin­dern, von Men­schen mit Behin­de­run­gen und von Wan­der­ar­beit­neh­mern, sowie Fol­ter und gewalt­sa­mes Ver­schwin­den­las­sen. Sie benen­nen die Ver­let­zun­gen, die Men­schen als Ange­hö­ri­gen der genann­ten Grup­pen oder in den spe­zi­fi­schen Situa­tio­nen typi­scher­weise erfah­ren haben, und sie schrei­ben den Staa­ten vor, dass und wie sie sol­che Ver­let­zun­gen ver­hin­dern, been­den und besei­ti­gen müs­sen. Sie kon­kre­ti­sie­ren also die in der inter­na­tio­na­len Men­schen­rechts­charta nie­der­ge­leg­ten Men­schen­rechte um des bes­se­ren Men­schen­rechts­schut­zes wil­len. Des­halb gibt es heute auch Dis­kus­sio­nen um einen Ver­trag über die Men­schen­rechte Älte­rer und über die men­schen­recht­li­chen Ver­pflich­tun­gen pri­va­ter Wirtschaftsunternehmen.

Fron­tal­an­griffe auf die Menschenrechte

In der Pra­xis waren Men­schen­rechte nie selbst­ver­ständ­lich. Seit 1948 wurde über Inhalt und Reich­weite von Men­schen­rech­ten in den Gre­mien der UNO und inner­halb von Staa­ten gestrit­ten. Mas­sive und sys­te­ma­ti­sche Ver­let­zun­gen von Men­schen­rech­ten waren ver­brei­tet. Aber stets war das von einem – zumin­dest ver­ba­len – Bekennt­nis zu den Men­schen­rech­ten beglei­tet. Gegen­wär­tig ist in der Welt, auch in Deutsch­land, etwas Neues zu beob­ach­ten. Die Idee und das Fun­da­ment der Men­schen­rechte wer­den offen ange­grif­fen und Regie­run­gen oder poli­ti­sche Bewe­gun­gen pro­pa­gie­ren andere Konzepte.

Zu die­sen Kon­zep­ten gehört etwa ein ver­ab­so­lu­tier­tes Ver­ständ­nis staat­li­cher Sou­ve­rä­ni­tät, nach dem jedes Mit­tel zum Schutz des Staa­tes ein­schließ­lich sei­ner Gren­zen und sei­ner – oft völ­kisch ver­stan­de­nen – Bevöl­ke­rung zuläs­sig ist. Eng ver­bun­den damit sind Vor­stel­lun­gen einer abso­lu­ten Volks­herr­schaft, frei von men­schen­recht­li­chen Bin­dun­gen. Men­schen­rechts­feinde sehen sich als die Ver­tre­ter des „wah­ren Vol­kes“ und leug­nen damit das glei­che Recht aller Staats­bür­ger auf poli­ti­sche Par­ti­zi­pa­tion. Andere Ansätze sind kul­tu­ra­lis­ti­sche Kon­zepte oder natio­na­lis­ti­sche, völ­ki­sche Ideo­lo­gien. Sie pro­pa­gie­ren die Ungleich­heit von Men­schen, indem sie die Ungleich­be­hand­lung for­dern oder Grup­pen durch Zuschrei­bun­gen von Eigen­schaf­ten kon­stru­ie­ren und abwer­ten, indem sie sie zu Sün­den­bö­cken machen und Hass und Gewalt schü­ren, um Men­schen aus­zu­gren­zen, zu ver­trei­ben oder gar zu töten. Damit ver­wandt sind Ideo­lo­gien, wonach es Auf­gabe des Staa­tes sei, „tra­di­tio­nelle Werte“ zu ver­tei­di­gen. Sie rich­ten sich zumeist gegen die Men­schen­rechte von Frauen und von Les­ben, Schwu­len, Bi*, Trans*, Inter* und Queer (LSBTIQ). Um das Fun­da­ment der Men­schen­rechte zu unter­mi­nie­ren, wer­den Mensch­heits­ver­bre­chen her­un­ter­ge­spielt oder gar geleugnet.

Gegen sol­che Bestre­bun­gen braucht es starke Insti­tu­tio­nen, die die men­schen­recht­li­chen Bin­dun­gen des Staa­tes ernst neh­men. Dazu gehört auch, dass Men­schen­rechte in der poli­ti­schen Debatte dif­fe­ren­ziert dis­ku­tiert und im gesell­schaft­li­chen Mit­ein­an­der durch Anwen­dung bekräf­tigt wer­den. Unver­zicht­bar sind hier­für unab­hän­gige Medien, Medi­en­viel­falt, eine enga­gierte Zivil­ge­sell­schaft und kri­ti­sche Kunst­schaf­fende, die sich soli­da­risch für die Rechte ande­rer ein­set­zen. Es ist nicht über­ra­schend, dass Auto­kra­ten und Popu­lis­ten gerade diese Akteure atta­ckie­ren und ihre Men­schen­rechte missachten.

Die All­ge­meine Erklä­rung der Men­schen­rechte ist des­halb auch nach 70 Jah­ren noch wich­tig. Sie erin­nert daran: Men­schen­rechte sind die Grund­lage des fried­li­chen Mit­ein­an­ders in einer Gesell­schaft. Des­halb muss der Staat die Men­schen­rechte aller Men­schen in sei­nem Herr­schafts­be­reich sichern, und des­halb sind Men­schen­rechte in unser aller urei­ge­nem Inter­esse. Die All­ge­meine Erklä­rung bestärkt uns darin, von allen Staats­or­ga­nen, von Poli­tik und Par­teien Men­schen­rechte ein­zu­for­dern. Sie stärkt uns darin, die Men­schen­rechte im All­tag zu leben, indem wir Abwer­tung, Aus­gren­zung und Hass klar ent­ge­gen­tre­ten, Men­schen als Indi­vi­duen wahr­neh­men und ein­an­der als Men­schen mit glei­cher Würde und glei­chen Rech­ten achten.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 6/2018.

Von |2019-06-17T10:21:16+02:00November 7th, 2018|Menschenrechte|0 Kommentare
Beate Rudolf ist Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte.