Eine Kul­tur der geleb­ten Menschenrechte

Mensch­li­che Begeg­nun­gen ermöglichen

Im Jahr 2016 schrieb der Muse­ums­di­rek­tor und Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Mar­tin Roth einen Gast­bei­trag in „Die Zeit“ und träumte darin vom „intel­lek­tu­el­len Wider­stand“. Ich war beein­druckt und bedankte mich bei ihm in einer E-Mail. Er ant­wor­tete schnell – wir hoff­ten auf ein Tref­fen, das lei­der nie zustande kam. 2017 ist er nach kur­zer schwe­rer Krank­heit ver­stor­ben. Und obwohl ich ihn nie per­sön­lich ken­nen gelernt habe, war und bin ich nach­hal­tig bewegt durch seine Worte. Er war ein Mensch, der schon sehr früh Worte for­mu­lierte, die in der gegen­wär­ti­gen poli­ti­schen Situa­tion mit jedem Tag mehr an Bedeu­tung gewin­nen. Ein Mensch, der die Ver­ant­wor­tung von Kul­tur für Men­schen­rechte und das gesell­schaft­li­che Zusam­men­le­ben in einer Prä­zi­sion auf den Punkt brachte, wie kaum jemand ande­res in den letz­ten Jah­ren. 2016 ver­ließ er sei­nen Pos­ten als Direk­tor des renom­mier­ten Vic­to­ria & Albert Museum in Lon­don, das er seit 2011 erfolg­reich geführt hatte, vor­zei­tig, als über den Brexit ent­schie­den wor­den war. Für ihn, so sagte er, war das eine ganz per­sön­li­che Niederlage.

In dem Gast­bei­trag, der mich bewegte, for­derte er Kul­tur­di­plo­ma­tie: „Museen, Thea­ter und andere Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen sol­len neben ihren eigent­li­chen Auf­ga­ben auch wei­che poli­ti­sche Ziele ver­fol­gen. Sie sol­len Men­schen dort errei­chen, wo sie die Poli­tik offen­sicht­lich nicht mehr errei­chen kann.“ Außer­dem schrieb er: „Nein, gerade jetzt, in Zei­ten wie die­sen, wäre es grund­ver­kehrt, die Direk­to­ren und Kura­to­ren vor­schnell aus der Ver­ant­wor­tung zu ent­las­sen. Wer ein Museum, eine Samm­lung lei­tet, darf nicht nur die kon­ser­va­to­ri­schen Belange im Blick haben, son­dern ebenso die mora­li­schen und ethi­schen Werte.“

Orte, die Kul­tur bele­ben und prä­gen, bele­ben und prä­gen unser Mit­ein­an­der. Sie brin­gen Men­schen­rechte zum Leben, prä­gen ihr Aus­le­ben. Denn Men­schen­rechte dür­fen nie nur For­ma­lia sein. Gesetze sind die Fun­da­mente, unver­zicht­bar. Doch es darf nie nur aus­schließ­lich um diese gehen. Son­dern auch um das Aus­bil­den, eines gesun­den und selbst­be­wuss­ten Ver­trau­ens in den eige­nen, inne­ren mora­li­schen Kom­pass von Recht und Unrecht. Ein Kom­pass der Gleich­heit aller Men­schen, der selbst dann anschlägt, selbst wenn ihre Ver­let­zung legal ist.

Es braucht eine Kul­tur der geleb­ten Men­schen­rechte. Eine, die intrin­sisch, durch Ideale, durch Moral moti­viert ist – und nicht aus­schließ­lich über ihre Gren­zen, das Grenz­wer­tige, den Grau­be­reich. Die Angst vor der Strafe. Die Angst vor dem Erwischtwerden.

Es ist nicht ille­gal in unse­rer Gesell­schaft von „Anker­zen­tren“ zu spre­chen oder Men­schen auf der Flucht mit einer Natur­ka­ta­stro­phe zu ver­glei­chen, als „Flücht­lings­welle“ zu bezeich­nen und sie dabei zu ent­mensch­li­chen. Doch es muss nicht ille­gal sein, damit wir erken­nen, wie damit Men­schen und ihre Rechte rhe­to­risch ver­letzt wer­den. Diese Worte demons­trie­ren uns, wel­che Macht in Wor­ten liegt. Wel­che Macht in den Geschich­ten, die erzählt und gehört werden.

Die Schrift­stel­le­rin Chi­ma­manda Ngozi Adi­chie beschreibt in ihrer Rede „The Dan­ger of a Sin­gle Story“ – „Die Gefahr der einen ein­zi­gen Geschichte“, was es mit einem gesam­ten Kon­ti­nent machen kann, wenn die­ser nur auf eine Geschichte redu­ziert wird. Adi­chies Rede beginnt mit Fide, einem jun­gen Mann, der bei ihrer Fami­lie im Haus­halt arbei­tet und für sie als Kind immer nur der „arme Fide“ gewe­sen ist. Als sie ihn und seine Fami­lie in sei­nem Dorf besucht, lernt sie ihn gänz­lich neu ken­nen: Er ist nun­mehr nicht „der arme Fide“, son­dern weit­aus mehr, näm­lich das Kind einer lus­ti­gen, musi­ka­li­schen, herz­li­chen, anpa­cken­den Fami­lie. Jahre spä­ter als Chi­ma­manda in den USA stu­diert, wird sie selbst, Toch­ter einer Aka­de­mi­ker­fa­mi­lie, ledig­lich als ein bemit­lei­dens­wer­tes Mäd­chen aus Afrika gese­hen. Spä­ter als Autorin und Dozen­tin an einer ame­ri­ka­ni­schen Uni­ver­si­tät erklärt ihr ein Stu­dent, dass er es sehr bedau­er­lich fin­det, dass afri­ka­ni­sche Väter so gewalt­tä­tig seien und ver­weist auf eine ihrer Roman­fi­gu­ren. Sie ant­wor­tet, seuf­zend, dass auch sie kürz­lich ein Buch gele­sen habe: „Ame­ri­can Psycho“. Und dass es so trau­rig sei, dass junge Ame­ri­ka­ner mas­sen­haft zu Seri­en­mör­dern wer­den würden.

Aus Hor­ror­fil­men oder Psycho-Thril­lern wür­den wir keine Rück­schlüsse über die gesamte US-ame­ri­ka­ni­sche Gesell­schaft zie­hen. Denn unsere Wahr­neh­mung der US-ame­ri­ka­ni­schen Gesell­schaft ist facet­ten­rei­cher, wenn auch nur auf­grund von US-ame­ri­ka­ni­schen Film-, Serien-, Musik-, Lite­ra­tur- und Kunst­pro­duk­tio­nen. Wir ken­nen also ver­schie­dene Geschich­ten, wie es ist, dort gebo­ren zu wer­den, zu leben, zu ster­ben, von den Toten zu erwa­chen, sich zu ver­lie­ben und betro­gen zu wer­den. Die­sem Stu­den­ten fällt es hin­ge­gen nicht ein­mal auf, wie er non­cha­lant Mil­lio­nen Väter eines gesam­ten Kon­ti­nents auf eine ein­zige Figur aus einem ein­zi­gen Roman redu­ziert. Ihm fällt es nicht auf, weil diese Geschichte „die Geschichte“ ist, die „er“ kennt.

Was aber „wis­sen“ wir über Min­der­hei­ten hier, in Deutsch­land? Wie facet­ten­reich ist unsere Dar­stel­lung von schwar­zen Söh­nen, migran­ti­schen Vätern und mus­li­mi­schen Groß­müt­tern? Was pas­siert mit einer Gesell­schaft, in der sich unter­schied­li­che Men­schen­gruppe nie mensch­lich begeg­nen – auch nicht über Kunst und Kul­tur? Gehen sie jeweils über die Geschichte des Kri­mi­nel­len, des Gewalt­tä­ti­gen und der Unter­drück­ten hinaus?

Wie kann es gelin­gen, einen Men­schen im Men­schen zu sehen, wenn er medial stets über „eine“ Geschichte – eine ent­mensch­li­chende, stark ver­zerrte, ste­reo­ty­pi­sie­rende, nega­tive Geschichte – in unsere Wahr­neh­mung gelangt? Irgend­wann, irgend­wann hören Men­schen auf, Men­schen zu sein. Und das ist das Fun­da­ment für Hass.

Damit wir Men­schen­rechte leben kön­nen, müs­sen wir den Men­schen im Gegen­über, im Frem­den ent­de­cken. Wir müs­sen ein­an­der mensch­li­che Begeg­nun­gen ermög­li­chen. Durch Geschich­ten, Erzäh­lun­gen, durch eine plu­rale, bewusste, prä­gende Kunst und Kul­tur. Eine Kul­tur des Lebens. Des Erle­bens. Der Men­schen. Und ihrer Rechte.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 6/2018.

Von |2019-06-17T10:11:45+02:00November 7th, 2018|Menschenrechte|Kommentare deaktiviert für

Eine Kul­tur der geleb­ten Menschenrechte

Mensch­li­che Begeg­nun­gen ermöglichen

Kübra Gümüşay ist Journalistin, Bloggerin und Netz-Aktivistin.