Kübra Gümüşay 7. November 2018 Logo_Initiative_print.png

Eine Kul­tur der geleb­ten Menschenrechte

Mensch­li­che Begeg­nun­gen ermöglichen

Im Jahr 2016 schrieb der Museumsdirektor und Kulturwissenschaftler Martin Roth einen Gastbeitrag in „Die Zeit“ und träumte darin vom „intellektuellen Widerstand“. Ich war beeindruckt und bedankte mich bei ihm in einer E-Mail. Er antwortete schnell – wir hofften auf ein Treffen, das leider nie zustande kam. 2017 ist er nach kurzer schwerer Krankheit verstorben. Und obwohl ich ihn nie persönlich kennen gelernt habe, war und bin ich nachhaltig bewegt durch seine Worte. Er war ein Mensch, der schon sehr früh Worte formulierte, die in der gegenwärtigen politischen Situation mit jedem Tag mehr an Bedeutung gewinnen. Ein Mensch, der die Verantwortung von Kultur für Menschenrechte und das gesellschaftliche Zusammenleben in einer Präzision auf den Punkt brachte, wie kaum jemand anderes in den letzten Jahren. 2016 verließ er seinen Posten als Direktor des renommierten Victoria & Albert Museum in London, das er seit 2011 erfolgreich geführt hatte, vorzeitig, als über den Brexit entschieden worden war. Für ihn, so sagte er, war das eine ganz persönliche Niederlage.

In dem Gastbeitrag, der mich bewegte, forderte er Kulturdiplomatie: „Museen, Theater und andere Kulturinstitutionen sollen neben ihren eigentlichen Aufgaben auch weiche politische Ziele verfolgen. Sie sollen Menschen dort erreichen, wo sie die Politik offensichtlich nicht mehr erreichen kann.“ Außerdem schrieb er: „Nein, gerade jetzt, in Zeiten wie diesen, wäre es grundverkehrt, die Direktoren und Kuratoren vorschnell aus der Verantwortung zu entlassen. Wer ein Museum, eine Sammlung leitet, darf nicht nur die konservatorischen Belange im Blick haben, sondern ebenso die moralischen und ethischen Werte.“

Orte, die Kultur beleben und prägen, beleben und prägen unser Miteinander. Sie bringen Menschenrechte zum Leben, prägen ihr Ausleben. Denn Menschenrechte dürfen nie nur Formalia sein. Gesetze sind die Fundamente, unverzichtbar. Doch es darf nie nur ausschließlich um diese gehen. Sondern auch um das Ausbilden, eines gesunden und selbstbewussten Vertrauens in den eigenen, inneren moralischen Kompass von Recht und Unrecht. Ein Kompass der Gleichheit aller Menschen, der selbst dann anschlägt, selbst wenn ihre Verletzung legal ist.

Es braucht eine Kultur der gelebten Menschenrechte. Eine, die intrinsisch, durch Ideale, durch Moral motiviert ist – und nicht ausschließlich über ihre Grenzen, das Grenzwertige, den Graubereich. Die Angst vor der Strafe. Die Angst vor dem Erwischtwerden.

Es ist nicht illegal in unserer Gesellschaft von „Ankerzentren“ zu sprechen oder Menschen auf der Flucht mit einer Naturkatastrophe zu vergleichen, als „Flüchtlingswelle“ zu bezeichnen und sie dabei zu entmenschlichen. Doch es muss nicht illegal sein, damit wir erkennen, wie damit Menschen und ihre Rechte rhetorisch verletzt werden. Diese Worte demonstrieren uns, welche Macht in Worten liegt. Welche Macht in den Geschichten, die erzählt und gehört werden.

Die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie beschreibt in ihrer Rede „The Danger of a Single Story“ – „Die Gefahr der einen einzigen Geschichte“, was es mit einem gesamten Kontinent machen kann, wenn dieser nur auf eine Geschichte reduziert wird. Adichies Rede beginnt mit Fide, einem jungen Mann, der bei ihrer Familie im Haushalt arbeitet und für sie als Kind immer nur der „arme Fide“ gewesen ist. Als sie ihn und seine Familie in seinem Dorf besucht, lernt sie ihn gänzlich neu kennen: Er ist nunmehr nicht „der arme Fide“, sondern weitaus mehr, nämlich das Kind einer lustigen, musikalischen, herzlichen, anpackenden Familie. Jahre später als Chimamanda in den USA studiert, wird sie selbst, Tochter einer Akademikerfamilie, lediglich als ein bemitleidenswertes Mädchen aus Afrika gesehen. Später als Autorin und Dozentin an einer amerikanischen Universität erklärt ihr ein Student, dass er es sehr bedauerlich findet, dass afrikanische Väter so gewalttätig seien und verweist auf eine ihrer Romanfiguren. Sie antwortet, seufzend, dass auch sie kürzlich ein Buch gelesen habe: „American Psycho“. Und dass es so traurig sei, dass junge Amerikaner massenhaft zu Serienmördern werden würden.

Aus Horrorfilmen oder Psycho-Thrillern würden wir keine Rückschlüsse über die gesamte US-amerikanische Gesellschaft ziehen. Denn unsere Wahrnehmung der US-amerikanischen Gesellschaft ist facettenreicher, wenn auch nur aufgrund von US-amerikanischen Film-, Serien-, Musik-, Literatur- und Kunstproduktionen. Wir kennen also verschiedene Geschichten, wie es ist, dort geboren zu werden, zu leben, zu sterben, von den Toten zu erwachen, sich zu verlieben und betrogen zu werden. Diesem Studenten fällt es hingegen nicht einmal auf, wie er nonchalant Millionen Väter eines gesamten Kontinents auf eine einzige Figur aus einem einzigen Roman reduziert. Ihm fällt es nicht auf, weil diese Geschichte „die Geschichte“ ist, die „er“ kennt.

Was aber „wissen“ wir über Minderheiten hier, in Deutschland? Wie facettenreich ist unsere Darstellung von schwarzen Söhnen, migrantischen Vätern und muslimischen Großmüttern? Was passiert mit einer Gesellschaft, in der sich unterschiedliche Menschengruppe nie menschlich begegnen – auch nicht über Kunst und Kultur? Gehen sie jeweils über die Geschichte des Kriminellen, des Gewalttätigen und der Unterdrückten hinaus?

Wie kann es gelingen, einen Menschen im Menschen zu sehen, wenn er medial stets über „eine“ Geschichte – eine entmenschlichende, stark verzerrte, stereotypisierende, negative Geschichte – in unsere Wahrnehmung gelangt? Irgendwann, irgendwann hören Menschen auf, Menschen zu sein. Und das ist das Fundament für Hass.

Damit wir Menschenrechte leben können, müssen wir den Menschen im Gegenüber, im Fremden entdecken. Wir müssen einander menschliche Begegnungen ermöglichen. Durch Geschichten, Erzählungen, durch eine plurale, bewusste, prägende Kunst und Kultur. Eine Kultur des Lebens. Des Erlebens. Der Menschen. Und ihrer Rechte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2018.

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