Das feine Ner­ven­sys­tem der Wohlfahrtsverbände

Die Bedeu­tung von Kul­tur für die soziale Arbeit

Rolf Rosen­b­rock und The­resa Brüh­eim reden über sozia­les Enga­ge­ment, gesell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung und inte­gra­tive Kul­tur­ar­beit in der Praxis.

The­resa Brüh­eim: Herr Rosen­b­rock, seit Januar die­ses Jah­res sind Sie Vize­prä­si­dent der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft der Freien Wohl­fahrts­pflege (BAGFW), zuvor waren Sie deren Prä­si­dent. Ziel aller Akti­vi­tä­ten der Wohl­fahrts­ver­bände, die in der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft orga­ni­siert sind, ist es, die Lebens­la­gen von sozial Benach­tei­lig­ten zu ver­bes­sern und deren Inter­es­sen im gesell­schaft­li­chen Dia­log und gegen­über der Poli­tik Gehör zu ver­schaf­fen. Was bedeu­tet das in der Pra­xis genau?

Rolf Rosen­b­rock: Die gesamte Wohl­fahrts­pflege befin­det sich aktu­ell in einer säku­la­ren Inno­va­tion – vom alten Bild der Für­sorge weg zur Hilfe zur Selbst­hilfe, zur Akti­vie­rung. Im Grunde genom­men ist das neue Ziel von sozia­ler Arbeit Empower­ment. Das ist ein Pro­zess, der seit ein paar Jahr­zehn­ten läuft, aber noch lange nicht zu Ende ist. Im Kern steht die durch Empi­rie gesi­cherte Erfah­rung, dass Men­schen bes­ser mit schwie­ri­gen Lebens­la­gen klar­kom­men, wenn sie psy­cho­so­ziale Basis­res­sour­cen haben. Das ist ers­tens das sta­bile Selbst­wert­ge­fühl; zwei­tens ein sta­bi­les Selbst­wirk­sam­keits­ge­fühl, d. h. die Erfah­rung: Ich kann etwas schaf­fen, wenn ich mir das vor­nehme. Drit­tens kommt die Ver­an­ke­rung in hilf­rei­chen sozia­len Net­zen hinzu. Und vier­tens, dass es alles mit inne­ren, per­sön­lich wich­ti­gen Din­gen, mit Zie­len, mit Sinn zu tun hat. Um diese Basis­ziele aller sozia­len Arbeit, bei der es immer um Ver­bes­se­rung von Teil­ha­be­mög­lich­kei­ten geht, zu beför­dern, ist die Arbeit mit Kul­tur­ge­gen­stän­den oder in kul­tu­rel­len Pro­jek­ten eigent­lich die erste Wahl. Des­halb hat die Beschäf­ti­gung mit Kul­tur­pro­jek­ten in der freien Wohl­fahrts­pflege in den letz­ten Jah­ren einen sehr viel grö­ße­ren Stel­len­wert bekom­men. Wir erle­ben ein­fach, dass die Arbeit mit Male­rei, mit Gesang, mit Tanz, mit Skulp­tu­ren, mit Musik eben Mög­lich­kei­ten bie­tet, sich jen­seits for­ma­ler Bil­dung und sprach­li­cher Ver­stän­di­gung aus­zu­drü­cken, Brü­cken zu bauen, sich selbst zu erle­ben, sich selbst zu bestä­ti­gen und dabei auch an Per­sön­lich­keits­schich­ten und Ecken der Bio­gra­fie her­an­zu­kom­men, an die man rein sprach­lich-kogni­tiv nicht her­an­kom­men würde – ob das nun in der Straf­fäl­li­gen­hilfe, bei der Arbeit mit psy­chisch Kran­ken, bei der Selbst­hilfe von chro­nisch Kran­ken, bei der Pflege oder Arbeit mit Men­schen mit demen­zi­el­len Ver­än­de­run­gen, im Kita-Bereich oder gerade auch in der Arbeit mit geflüch­te­ten Men­schen ist.

Kul­tur ist – wie Sie sagen – eine wich­tige Methode sozia­ler Arbeit. Inwie­weit begrei­fen sich Wohl­fahrts­ver­bände als Kulturakteure?

Wir sind in ers­ter Linie Akteure der sozia­len Arbeit, aber die Beschäf­ti­gung mit Kul­tur oder Kul­tur­pro­jek­ten ist für uns eine wesent­li­che und erfolg­ver­spre­chende Methode der sozia­len Arbeit. Ich glaube, Sie fin­den heute nie­man­den mehr, der in der sozia­len Arbeit unter­wegs ist und das anders sehen würde. Aber wich­tig ist: Wir machen keine Kul­tur­ar­beit, weil wir die Kul­tur­na­tion noch schö­ner machen wol­len; wir machen Kul­tur­ar­beit, weil soziale Arbeit heute nicht mehr ohne Kul­tur­ar­beit denk­bar ist.

Sie haben bereits ange­deu­tet, dass Kul­tur­ar­beit auch bei der Arbeit mit Geflüch­te­ten eine Rolle spielt. Wie kann und soll die Lebens­lage von Geflüch­te­ten und ande­ren sozia­len Rand­grup­pen in Deutsch­land durch die Arbeit der Wohl­fahrts­ver­bände ver­bes­sert werden?

Die Phase der Not­auf­nahme und Erst­ver­sor­gung der Flücht­linge war ein unglaub­li­ches Bei­spiel für die sehr große Stärke der Zivil­ge­sell­schaft und den sozia­len Zusam­men­halt in Deutsch­land. Die Wohl­fahrts­ver­bände und ihre Orga­ni­sa­tio­nen haben eine wich­tige Rolle gespielt, aber auch drum herum gab es unend­lich viele Initia­ti­ven, die sich sehr ver­dient gemacht haben. Das ging los mit der Ver­tei­lung von Was­ser­fla­schen und geschmier­ten Bröt­chen am Bahn­hof bis hin zu per­sön­li­cher Beglei­tung ins neue Leben, in die neue Spra­che und in Rich­tung neuer Arbeits­markt. Die Paten­schaf­ten, die zu vie­len Tau­sen­den noch lau­fen, sind Beglei­tun­gen bei Erkun­dungs­gän­gen in eine fremde Kul­tur. Und das ist natür­lich keine Ein­bahn­straße. Der Pate ver­än­dert sich genauso wie der geflüch­tete Mensch, denn die­ser gegen­sei­tige Abgleich von Erfah­run­gen – auch meta­sprach­lich in der Aus­ein­an­der­set­zung mit Kunst, Bau­wer­ken, Musik, Tanz, Thea­ter – ver­än­dert beide. Das ist auch unsere Vor­stel­lung von Inte­gra­tion, die eigent­lich dann eher mit dem Wort „Inklu­sion“ bes­ser getrof­fen ist. Inte­gra­tion heißt, ich ermög­li­che einem ande­ren den Zugang zu mei­ner Kul­tur; wäh­rend Inklu­sion beinhal­tet, dass Men­schen mit unter­schied­li­chen Erfah­rungs­hin­ter­grün­den zusam­men­kom­men, etwas gemein­sam machen und dabei ver­än­dern sich alle. Was 2015 so spon­tan ange­fan­gen hat, ist dann zum Teil sehr ver­dienst­voll von grö­ße­ren staat­li­chen Pro­gram­men wie „Kul­tur macht stark“ vom Bun­des­bil­dungs­mi­nis­te­rium, aber auch von den Pro­jekt­pro­gram­men vom Fami­li­en­mi­nis­te­rium oder der Bun­des­be­auf­trag­ten für Migra­tion, Flücht­linge und Inte­gra­tion wei­ter­ge­führt wor­den. Das sind alles Pro­gramme, die zwei­fel­los quan­ti­ta­tiv nicht wesent­lich über ein Modell­pro­jekt hin­aus­kom­men. Aber sie sind metho­disch so ange­legt, dass man sagt: Es braucht Gele­gen­hei­ten, es braucht Orte und es braucht Räume, wo sich Men­schen mit unter­schied­li­chem kul­tu­rel­len Hin­ter­grund, aber in Respekt begeg­nen kön­nen. Das Ziel die­ser Arbeit mit Geflüch­te­ten ist natür­lich, den Geflüch­te­ten einen Zugang zu unse­rer Welt zu eröff­nen, ihnen aber auch die Gele­gen­heit zu geben, diese Basis­res­sour­cen – Selbst­wert­ge­fühl, Selbst­wirk­sam­keits­ge­fühl, Ver­an­ke­rung und Sinn – zu erschließen.

Kul­tur macht stark – Sie haben es bereits ange­spro­chen. Der Pari­tä­ti­sche ist auch daran betei­ligt. Wie sieht die Betei­li­gung genau aus?

Der Pari­tä­ti­sche ist ein Dach­ver­band von über 10.000 recht­lich, poli­tisch und öko­no­misch selbst­stän­di­gen Mit­glieds­or­ga­ni­sa­tio­nen, die sich einem gemein­sa­men Wer­te­pro­gramm ver­pflich­tet füh­len. Wenn wir, wie in die­sem Falle, Mit­tel aus einem Bun­des­pro­gramm bekom­men, dann schrei­ben wir aus. Dann bewer­ben sich kleine und grö­ßere Initia­ti­ven. Da wäh­len wir nach Qua­li­täts­kri­te­rien aus, wem wir das stets zu knappe Geld zur Ver­fü­gung stel­len. Da kom­men dann auch Pro­jekte, an die wir nie gedacht haben: Die Mög­lich­keit, über Schwarz­licht­thea­ter oder Pup­pen­thea­ter Flucht­er­fah­run­gen, trau­ma­ti­sche Erleb­nisse auf­zu­ar­bei­ten. Oder auch ein­fach über gemein­sa­mes Malen Ent­setz­lich­kei­ten zu ver­ar­bei­ten, die man über­haupt nicht ver­sprach­li­chen kann. Unsere Orga­ni­sa­tio­nen haben dann mehr die Auf­gabe, Ein­hei­mi­sche und Geflüch­tete zusam­men­zu­füh­ren, aber auch einen schüt­zen­den Rah­men zu bil­den, in dem sich etwas ent­fal­ten kann. Die Pro­jekt­for­mate sind ganz varia­bel. Das geht von zwei­tä­gi­gen Kur­sen bis hin zu wochen­lan­gen Kurs­fahr­ten. Diese bezie­hen sich wie­derum auf alle Spar­ten: Male­rei, Tanz, Thea­ter, Musik usw.

Wie schon ange­deu­tet, die Hilfs­be­reit­schaft war Ende 2015 zum Höhe­punkt der Flücht­lings­krise in Deutsch­land groß. Viele Geflüch­tete wur­den herz­lich auf­ge­nom­men. Die Stim­mung hat sich aber lei­der ver­än­dert. Es gab auch viele Anschläge auf Flücht­lings­heime, die AfD ver­zeich­nete einen rasan­ten Auf­stieg usw. Gibt es denn heute auch noch soziale Ver­ant­wor­tung für­ein­an­der und gesell­schaft­li­chen Zusammenhalt?

Ja, das haben wir natür­lich noch! In ers­ter Linie hat sich die Poli­tik gewan­delt. Ohne dass es groß dekla­riert wurde, ist aus einer Poli­tik der Will­kom­mens­kul­tur eine Poli­tik der Fes­tung Europa gewor­den, was sich natür­lich auch im Bewusst­sein der Men­schen nie­der­schlägt. Wir haben ein sta­bi­les, hohes Niveau an ehren­amt­li­chem Enga­ge­ment. An ein­zel­nen klei­nen Ecken beginnt es ein biss­chen nach­zu­las­sen – vor allem im lang­fris­ti­gen, jah­re­lan­gen Enga­ge­ment, an ande­ren wächst es wei­ter. Aber das Gesamt­ni­veau ist unge­bro­chen hoch und ein Beweis für die wirk­lich gewal­tige Ener­gie, die in die­sem Land steckt. Das ist ein Schatz für die­ses Land.

Eine Auf­gabe der Wohl­fahrts­ver­bände ist es auch, die soziale Ver­ant­wor­tung in der Bevöl­ke­rung zu pfle­gen und zu stär­ken. Wie machen Sie das?

Als pari­tä­ti­scher Gesamt­ver­band beruht unsere Arbeit auf den bei­den Wer­ten: glei­cher Respekt und glei­che Chan­cen für jeden Men­schen. Und wir lei­ten aus die­ser Wer­te­ori­en­tie­rung das ab, was man alt­mo­disch „das Wäch­ter­amt“ nennt. Wir haben die Auf­gabe, denen, die sonst nicht gehört wer­den, eine Stimme zu geben. Und wir haben die Pflicht, dar­auf auf­merk­sam zu machen, durch wel­che Ent­wick­lun­gen in der Makro­po­li­tik Bedürf­tig­kei­ten und Pro­bleme ent­ste­hen. Wir wei­sen z. B. auf die Defi­zite einer Sozi­al­po­li­tik hin, die das Aus­ein­an­der­ge­hen der sozia­len Schere nicht nur tole­riert, son­dern beför­dert. Auf diese Weise machen wir Inter­es­sen­po­li­tik. Das kön­nen wir nur glaub­wür­dig, weil ein gro­ßer Wohl­fahrts­ver­band mit vie­len Mit­glieds­or­ga­ni­sa­tio­nen ein sehr fei­nes Ner­ven­sys­tem ist, bei dem die Ner­ven­enden eben bis an die dunk­len Ecken und Bruch­kan­ten der Gesell­schaft rei­chen, wo nor­ma­ler­weise nicht so gern hin­ge­guckt wird. Das macht uns natür­lich auf­merk­sam für die Bedro­hun­gen, die bestehen. Das sind z. B. die 3.500 Straf­ta­ten im Umfeld von Flücht­lings­ein­rich­tun­gen in 2016. Wir beob­ach­ten aller­dings auch, dass sich in Reak­tion ehren­amt­li­che Arbeit im Flücht­lings­be­reich poli­ti­siert. Ehren­amt­li­che Arbeit mit Flücht­lin­gen ist quasi ein State­ment nicht nur für geflüch­tete Men­schen, son­dern auch gegen IS-Ter­ror und gegen Rechts.

Ein ande­rer Weg, um die­sen gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt zu stär­ken, ist die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion, deren Mit­glied die BAGFW ist. Was ver­spre­chen sich die Wohl­fahrts­ver­bände von die­ser Mitgliedschaft?

Erst­mal ist es eine groß­ar­tige Ange­le­gen­heit, wenn sich viele große Akteure der Zivil­ge­sell­schaft dar­auf eini­gen kön­nen, dass die Arbeit mit und an Kul­tur eine ganz pro­mi­nente und erfolg­rei­che Methode der Inte­gra­tion und der sozia­len Arbeit ist. Zwei­tens hof­fen wir, dass die Inno­va­tion, in der wir als Wohl­fahrts­pflege drin­ste­cken, näm­lich von der Für­sorge zum Empower­ment, auch eine gewisse Strahl­wir­kung auf die Pro­blem­wahr­neh­mung und -bear­bei­tung in ande­ren Berei­chen hat. Drit­tens hof­fen wir natür­lich auf Syn­er­gien. Sol­che Netz­werke sind ange­sichts der teil­weise sehr kom­ple­xen Her­aus­for­de­run­gen, die die Auf­nahme von einer Mil­lion Flücht­lin­gen mit sich bringt, nicht nur hilf­reich, son­dern ein­fach unverzichtbar.

Was wün­schen Sie sich für die Gesell­schaft von mor­gen, wie sollte die aussehen?

Also unsere simp­len und seit 90 Jah­ren bestehen­den pro­gram­ma­ti­schen Grund­pfei­ler, glei­cher Respekt für jeden Men­schen und glei­che Chan­cen für jeden Men­schen, klin­gen harm­los, sind aber bei nähe­rer Hin­sicht ein gesell­schaft­li­ches Kampf­pro­gramm. Defi­zite oder gar Rück­schritte bei die­sen mate­ri­el­len und insti­tu­tio­nel­len Fak­to­ren sind auch durch kul­tu­relle Arbeit nicht zu kom­pen­sie­ren. Wir mes­sen auch die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung daran: Nähern wir uns die­sen Zie­len oder ent­fer­nen wir uns? Und je mehr Bünd­nis­part­ner wir dabei­ha­ben, uns ihm zu nähern, desto grö­ßer sind die Chan­cen, dass eine sol­che Bewe­gung auch real stattfindet.

Von |2019-06-11T09:22:03+02:00Juni 7th, 2017|Einwanderungsgesellschaft|Kommentare deaktiviert für

Das feine Ner­ven­sys­tem der Wohlfahrtsverbände

Die Bedeu­tung von Kul­tur für die soziale Arbeit

Rolf Rosenbrock ist Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. und Vizepräsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW). Theresa Brüheim ist Chefin vom Dienst von Politik & Kultur.