Rolf Rosenbrock & Theresa Brüheim 7. Juni 2017 Logo_Initiative_print.png

Das feine Ner­ven­sys­tem der Wohlfahrtsverbände

Die Bedeu­tung von Kul­tur für die soziale Arbeit

Rolf Rosenbrock und Theresa Brüheim reden über soziales Engagement, gesellschaftliche Verantwortung und integrative Kulturarbeit in der Praxis.

Theresa Brüheim: Herr Rosenbrock, seit Januar dieses Jahres sind Sie Vizepräsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW), zuvor waren Sie deren Präsident. Ziel aller Aktivitäten der Wohlfahrtsverbände, die in der Bundesarbeitsgemeinschaft organisiert sind, ist es, die Lebenslagen von sozial Benachteiligten zu verbessern und deren Interessen im gesellschaftlichen Dialog und gegenüber der Politik Gehör zu verschaffen. Was bedeutet das in der Praxis genau?

Rolf Rosenbrock: Die gesamte Wohlfahrtspflege befindet sich aktuell in einer säkularen Innovation – vom alten Bild der Fürsorge weg zur Hilfe zur Selbsthilfe, zur Aktivierung. Im Grunde genommen ist das neue Ziel von sozialer Arbeit Empowerment. Das ist ein Prozess, der seit ein paar Jahrzehnten läuft, aber noch lange nicht zu Ende ist. Im Kern steht die durch Empirie gesicherte Erfahrung, dass Menschen besser mit schwierigen Lebenslagen klarkommen, wenn sie psychosoziale Basisressourcen haben. Das ist erstens das stabile Selbstwertgefühl; zweitens ein stabiles Selbstwirksamkeitsgefühl, d. h. die Erfahrung: Ich kann etwas schaffen, wenn ich mir das vornehme. Drittens kommt die Verankerung in hilfreichen sozialen Netzen hinzu. Und viertens, dass es alles mit inneren, persönlich wichtigen Dingen, mit Zielen, mit Sinn zu tun hat. Um diese Basisziele aller sozialen Arbeit, bei der es immer um Verbesserung von Teilhabemöglichkeiten geht, zu befördern, ist die Arbeit mit Kulturgegenständen oder in kulturellen Projekten eigentlich die erste Wahl. Deshalb hat die Beschäftigung mit Kulturprojekten in der freien Wohlfahrtspflege in den letzten Jahren einen sehr viel größeren Stellenwert bekommen. Wir erleben einfach, dass die Arbeit mit Malerei, mit Gesang, mit Tanz, mit Skulpturen, mit Musik eben Möglichkeiten bietet, sich jenseits formaler Bildung und sprachlicher Verständigung auszudrücken, Brücken zu bauen, sich selbst zu erleben, sich selbst zu bestätigen und dabei auch an Persönlichkeitsschichten und Ecken der Biografie heranzukommen, an die man rein sprachlich-kognitiv nicht herankommen würde – ob das nun in der Straffälligenhilfe, bei der Arbeit mit psychisch Kranken, bei der Selbsthilfe von chronisch Kranken, bei der Pflege oder Arbeit mit Menschen mit demenziellen Veränderungen, im Kita-Bereich oder gerade auch in der Arbeit mit geflüchteten Menschen ist.

Kultur ist – wie Sie sagen – eine wichtige Methode sozialer Arbeit. Inwieweit begreifen sich Wohlfahrtsverbände als Kulturakteure?

Wir sind in erster Linie Akteure der sozialen Arbeit, aber die Beschäftigung mit Kultur oder Kulturprojekten ist für uns eine wesentliche und erfolgversprechende Methode der sozialen Arbeit. Ich glaube, Sie finden heute niemanden mehr, der in der sozialen Arbeit unterwegs ist und das anders sehen würde. Aber wichtig ist: Wir machen keine Kulturarbeit, weil wir die Kulturnation noch schöner machen wollen; wir machen Kulturarbeit, weil soziale Arbeit heute nicht mehr ohne Kulturarbeit denkbar ist.

Sie haben bereits angedeutet, dass Kulturarbeit auch bei der Arbeit mit Geflüchteten eine Rolle spielt. Wie kann und soll die Lebenslage von Geflüchteten und anderen sozialen Randgruppen in Deutschland durch die Arbeit der Wohlfahrtsverbände verbessert werden?

Die Phase der Notaufnahme und Erstversorgung der Flüchtlinge war ein unglaubliches Beispiel für die sehr große Stärke der Zivilgesellschaft und den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Die Wohlfahrtsverbände und ihre Organisationen haben eine wichtige Rolle gespielt, aber auch drum herum gab es unendlich viele Initiativen, die sich sehr verdient gemacht haben. Das ging los mit der Verteilung von Wasserflaschen und geschmierten Brötchen am Bahnhof bis hin zu persönlicher Begleitung ins neue Leben, in die neue Sprache und in Richtung neuer Arbeitsmarkt. Die Patenschaften, die zu vielen Tausenden noch laufen, sind Begleitungen bei Erkundungsgängen in eine fremde Kultur. Und das ist natürlich keine Einbahnstraße. Der Pate verändert sich genauso wie der geflüchtete Mensch, denn dieser gegenseitige Abgleich von Erfahrungen – auch metasprachlich in der Auseinandersetzung mit Kunst, Bauwerken, Musik, Tanz, Theater – verändert beide. Das ist auch unsere Vorstellung von Integration, die eigentlich dann eher mit dem Wort „Inklusion“ besser getroffen ist. Integration heißt, ich ermögliche einem anderen den Zugang zu meiner Kultur; während Inklusion beinhaltet, dass Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen zusammenkommen, etwas gemeinsam machen und dabei verändern sich alle. Was 2015 so spontan angefangen hat, ist dann zum Teil sehr verdienstvoll von größeren staatlichen Programmen wie „Kultur macht stark“ vom Bundesbildungsministerium, aber auch von den Projektprogrammen vom Familienministerium oder der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration weitergeführt worden. Das sind alles Programme, die zweifellos quantitativ nicht wesentlich über ein Modellprojekt hinauskommen. Aber sie sind methodisch so angelegt, dass man sagt: Es braucht Gelegenheiten, es braucht Orte und es braucht Räume, wo sich Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund, aber in Respekt begegnen können. Das Ziel dieser Arbeit mit Geflüchteten ist natürlich, den Geflüchteten einen Zugang zu unserer Welt zu eröffnen, ihnen aber auch die Gelegenheit zu geben, diese Basisressourcen – Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeitsgefühl, Verankerung und Sinn – zu erschließen.

Kultur macht stark – Sie haben es bereits angesprochen. Der Paritätische ist auch daran beteiligt. Wie sieht die Beteiligung genau aus?

Der Paritätische ist ein Dachverband von über 10.000 rechtlich, politisch und ökonomisch selbstständigen Mitgliedsorganisationen, die sich einem gemeinsamen Werteprogramm verpflichtet fühlen. Wenn wir, wie in diesem Falle, Mittel aus einem Bundesprogramm bekommen, dann schreiben wir aus. Dann bewerben sich kleine und größere Initiativen. Da wählen wir nach Qualitätskriterien aus, wem wir das stets zu knappe Geld zur Verfügung stellen. Da kommen dann auch Projekte, an die wir nie gedacht haben: Die Möglichkeit, über Schwarzlichttheater oder Puppentheater Fluchterfahrungen, traumatische Erlebnisse aufzuarbeiten. Oder auch einfach über gemeinsames Malen Entsetzlichkeiten zu verarbeiten, die man überhaupt nicht versprachlichen kann. Unsere Organisationen haben dann mehr die Aufgabe, Einheimische und Geflüchtete zusammenzuführen, aber auch einen schützenden Rahmen zu bilden, in dem sich etwas entfalten kann. Die Projektformate sind ganz variabel. Das geht von zweitägigen Kursen bis hin zu wochenlangen Kursfahrten. Diese beziehen sich wiederum auf alle Sparten: Malerei, Tanz, Theater, Musik usw.

Wie schon angedeutet, die Hilfsbereitschaft war Ende 2015 zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Deutschland groß. Viele Geflüchtete wurden herzlich aufgenommen. Die Stimmung hat sich aber leider verändert. Es gab auch viele Anschläge auf Flüchtlingsheime, die AfD verzeichnete einen rasanten Aufstieg usw. Gibt es denn heute auch noch soziale Verantwortung füreinander und gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Ja, das haben wir natürlich noch! In erster Linie hat sich die Politik gewandelt. Ohne dass es groß deklariert wurde, ist aus einer Politik der Willkommenskultur eine Politik der Festung Europa geworden, was sich natürlich auch im Bewusstsein der Menschen niederschlägt. Wir haben ein stabiles, hohes Niveau an ehrenamtlichem Engagement. An einzelnen kleinen Ecken beginnt es ein bisschen nachzulassen – vor allem im langfristigen, jahrelangen Engagement, an anderen wächst es weiter. Aber das Gesamtniveau ist ungebrochen hoch und ein Beweis für die wirklich gewaltige Energie, die in diesem Land steckt. Das ist ein Schatz für dieses Land.

Eine Aufgabe der Wohlfahrtsverbände ist es auch, die soziale Verantwortung in der Bevölkerung zu pflegen und zu stärken. Wie machen Sie das?

Als paritätischer Gesamtverband beruht unsere Arbeit auf den beiden Werten: gleicher Respekt und gleiche Chancen für jeden Menschen. Und wir leiten aus dieser Werteorientierung das ab, was man altmodisch „das Wächteramt“ nennt. Wir haben die Aufgabe, denen, die sonst nicht gehört werden, eine Stimme zu geben. Und wir haben die Pflicht, darauf aufmerksam zu machen, durch welche Entwicklungen in der Makropolitik Bedürftigkeiten und Probleme entstehen. Wir weisen z. B. auf die Defizite einer Sozialpolitik hin, die das Auseinandergehen der sozialen Schere nicht nur toleriert, sondern befördert. Auf diese Weise machen wir Interessenpolitik. Das können wir nur glaubwürdig, weil ein großer Wohlfahrtsverband mit vielen Mitgliedsorganisationen ein sehr feines Nervensystem ist, bei dem die Nervenenden eben bis an die dunklen Ecken und Bruchkanten der Gesellschaft reichen, wo normalerweise nicht so gern hingeguckt wird. Das macht uns natürlich aufmerksam für die Bedrohungen, die bestehen. Das sind z. B. die 3.500 Straftaten im Umfeld von Flüchtlingseinrichtungen in 2016. Wir beobachten allerdings auch, dass sich in Reaktion ehrenamtliche Arbeit im Flüchtlingsbereich politisiert. Ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen ist quasi ein Statement nicht nur für geflüchtete Menschen, sondern auch gegen IS-Terror und gegen Rechts.

Ein anderer Weg, um diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, ist die Initiative kulturelle Integration, deren Mitglied die BAGFW ist. Was versprechen sich die Wohlfahrtsverbände von dieser Mitgliedschaft?

Erstmal ist es eine großartige Angelegenheit, wenn sich viele große Akteure der Zivilgesellschaft darauf einigen können, dass die Arbeit mit und an Kultur eine ganz prominente und erfolgreiche Methode der Integration und der sozialen Arbeit ist. Zweitens hoffen wir, dass die Innovation, in der wir als Wohlfahrtspflege drinstecken, nämlich von der Fürsorge zum Empowerment, auch eine gewisse Strahlwirkung auf die Problemwahrnehmung und -bearbeitung in anderen Bereichen hat. Drittens hoffen wir natürlich auf Synergien. Solche Netzwerke sind angesichts der teilweise sehr komplexen Herausforderungen, die die Aufnahme von einer Million Flüchtlingen mit sich bringt, nicht nur hilfreich, sondern einfach unverzichtbar.

Was wünschen Sie sich für die Gesellschaft von morgen, wie sollte die aussehen?

Also unsere simplen und seit 90 Jahren bestehenden programmatischen Grundpfeiler, gleicher Respekt für jeden Menschen und gleiche Chancen für jeden Menschen, klingen harmlos, sind aber bei näherer Hinsicht ein gesellschaftliches Kampfprogramm. Defizite oder gar Rückschritte bei diesen materiellen und institutionellen Faktoren sind auch durch kulturelle Arbeit nicht zu kompensieren. Wir messen auch die gesellschaftliche Entwicklung daran: Nähern wir uns diesen Zielen oder entfernen wir uns? Und je mehr Bündnispartner wir dabeihaben, uns ihm zu nähern, desto größer sind die Chancen, dass eine solche Bewegung auch real stattfindet.

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