Migrare

Von Flücht­lings­wel­len und Erfolgsgeschichten

Wo immer ich hin­komme, nach weni­gen Minu­ten beginnt eine hef­tige Debatte über die Flücht­lings­po­li­tik der BRD, häu­fig nega­tiv, meis­tens erhitzt, auch in mei­nen ansons­ten „auf­ge­klär­ten“ Krei­sen. Ich werde dann zunächst still, man scheint ver­ges­sen zu haben, dass ich selbst eine Migran­tin bin! Migran­tin mit Erfolgs­ge­schichte! In den USA, dem frü­he­ren Ein­wan­de­rungs­mekka, ist es gang und gäbe: „Jeder kann es schaf­fen!“ ist dort die Devise, hier in Deutsch­land ist man vor­sich­ti­ger, es wird nivel­liert, gern nach unten hin. Das ist schade, denn die BRD hat einige Erfolgs­ge­schich­ten zu ver­bu­chen. Als meine Eltern in den frü­hen 1960er Jah­ren mit mir nach Deutsch­land kamen, gab es hier ca. 8.000 Juden und 600.000 Aus­län­der oder Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, wie man das heute so hübsch nennt. Heute haben wir mitt­ler­weile ca. sie­ben Mil­lio­nen Aus­län­der und unge­fähr 100.000 regis­trierte Juden in der Bun­des­re­pu­blik. Wir fass­ten damals Fuß in Gie­ßen, was wahr­lich nicht der Nabel der Welt ist. Meine Eltern nah­men Abschied von ihrem bis dato geführ­ten Leben und gaben sich Mühe, in Deutsch­land anzu­kom­men. Wir fuh­ren regel­mä­ßig nach Frank­furt, dort gab es immer­hin in der Markt­halle Espresso und Moz­za­rella. Moz­za­rella? Man hielt es damals für einen sizi­lia­ni­schen Tanz, heute tun die Ber­li­ner so, als sei es wie die Cur­ry­wurst ihre Erfin­dung, vom Espresso ganz zu schweigen.

Meine Eltern hat­ten lange für ihre deut­sche Staats­bür­ger­schaft gekämpft. Meine Mut­ter hatte über acht Jahre Anträge aller Art gestellt, und als wir schließ­lich 1970 die deut­sche Staats­bür­ger­schaft erhiel­ten, gin­gen wir zum „Jugo­sla­wen“ und fei­er­ten aus­gie­big. Jugo­sla­wien gibt es nun längst nicht mehr, aber die Kroa­ten und Ser­ben, Bos­nier und Maze­do­nier, die in Deutsch­land leben, schon. Meine Eltern woll­ten nach Deutsch­land, weil es die kul­tu­relle Hei­mat mei­ner Mut­ter war. Beide woll­ten in Europa blei­ben, weil sie sich trotz allem als Euro­päer fühl­ten. Heute bin ich froh dar­über. Kein Land in Europa hat sich mit sei­ner Geschichte so hef­tig aus­ein­an­der­ge­setzt und aus­ein­an­der­set­zen müs­sen. Öster­reich, Frank­reich, Spa­nien und auch die angeb­lich so neu­trale Schweiz haben da noch eini­ges vor sich, was die Auf­ar­bei­tung der eige­nen Ver­gan­gen­heit angeht. Damals in den 1960er Jah­ren jeden­falls waren wir fremd, sehr fremd hier. Mein Vater, Ober­arzt an der Gie­ße­ner Uni­kli­nik, tat sich schwer im über­schau­ba­ren Gie­ßen. Jede halbe Stunde hörte er Nach­rich­ten auf sei­nem klei­nen Welt­emp­fän­ger, wie ein Reser­ve­of­fi­zier der Geschichte, den man plötz­lich wie­der ein­be­ru­fen könnte. Inzwi­schen fuhr meine Mut­ter mit ihrem Renault Clio durch Hes­sen, auf den Spu­ren des Land­ju­den­tums, das es ein­mal in gro­ßer Anzahl hier gege­ben hatte. Irgend­wann griff aber auch bei mei­nen Eltern die alte Emi­gran­ten­weis­heit: „Richte dich ein, als wär’s auf ewig.“ Das taten sie und grün­de­ten eine Jüdi­sche Gemeinde. Und dabei blieb es nicht, sie sorg­ten dafür, dass Gie­ßen ein neues Gemein­de­haus bekam, die kleine, ori­gi­nal erhal­tene Land­syn­agoge aus dem Dorf Wohra wurde umge­setzt, ein Wohn­heim für Sti­pen­dia­ten wurde ange­schlos­sen. Viele, sehr viele hal­fen ihnen. Sicher, einige taten es aus Schuld­ge­füh­len, aus Scham. Aus dem Wunsch her­aus, etwas wie­der­gut­zu­ma­chen. Viele taten es aber frei­wil­lig aus Freude und Begeis­te­rung. Meine Eltern beka­men das Bun­des­ver­dienst­kreuz und Gie­ßen eine wun­der­schöne Synagoge.

Ich bin in Deutsch­land zur Schule gegan­gen, habe hier stu­diert, gehei­ra­tet, fühle mich wohl und sicher in Ber­lin. „Vor­sicht!“ höre ich mei­nen Freund Raffi sagen. „Wenn es die Schoah nicht gege­ben hätte, hät­test du noch deine alte Hei­mat, und ver­giss nicht: Deutsch­land musste gut zu euch sein!“ Viel­leicht, wahr­schein­lich, wer weiß. Dass Deutsch­land eine so große Anzahl an Flücht­lin­gen auf­ge­nom­men hat, hat sicher mit sei­ner Geschichte zu tun. Ich finde das gut, auch wenn es keine leichte Auf­gabe ist und es noch sehr viel zu ver­bes­sern gibt. Ganz zu schwei­gen von den reli­giö­sen, kul­tu­rel­len und sprach­li­chen Unter­schie­den und Bar­rie­ren – das braucht Zeit. Außer­dem haben wir alle sowieso keine Wahl. Es herrscht Krieg auf der einen Hälfte der Welt, da ist die andere Hälfte gefragt zu hel­fen. Es gab schon immer große Völ­ker­wan­de­run­gen aus den ver­schie­dens­ten Grün­den, meis­tens aus Not her­aus, bedingt durch Hun­ger oder Krieg. Jetzt ist es mal wie­der soweit und es ist eine Mitzwa, also eine Ver­pflich­tung, zu helfen.

Wir „Migran­ten“, aus dem Latein „migrare“, sprich wan­dern, also wir „Wan­dern­den“, die schon län­ger von der Demo­kra­tie der BRD pro­fi­tie­ren durf­ten, ste­hen mit unse­ren „Erfolgs­ge­schich­ten“ als gelun­ge­nes Bei­spiel da. Ich glaube fest an sol­che posi­ti­ven Leit­bil­der. Wenn die vie­len Kin­der und Jugend­li­chen, die neu in die BRD gekom­men sind, sehen, dass sie eine Chance in Deutsch­land haben, dass sie hier etwas ler­nen und wer­den kön­nen, ist das sicher bes­ser, als ihnen die Angst zu ver­mit­teln: „Wir schaf­fen das nicht!“ Und es würde dabei auch hel­fen, wenn lang­sam die beque­men Kli­schees ver­schwin­den wür­den, vor allem die im Deut­schen Fern­se­hen. Mein Rol­len­pro­fil sah über Jahr­zehnte näm­lich so aus: Erst war ich die Toch­ter, dann die Schwes­ter, schließ­lich die Mut­ter der Diebe, Ein­bre­cher, Mör­der. Was Aus­län­der in deut­schen Fil­men halt so sind. Mei­nen Durch­bruch hatte ich als Putzfrau.

Nun weiß ja jeder, dass nicht alle Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund zugleich Ver­bre­cher sind. Tja, nicht alle, aber lei­der, lei­der doch eine Menge, also eine sehr große Menge, das kann man doch jeden Tag im Fern­se­hen sehen. Sie sind alle­samt Analpha­be­ten, haben einen Döner- oder Gemü­se­la­den, sowohl im Vor­abend­pro­gramm als auch zur prime time, und wenn es Juden sind, dann sind sie reich und han­deln mit Immobilien…
„Gebraucht wer­den“ könnte ein Schlüs­sel­wort sein, und sicher ist es an der Zeit, Lei­tungs­po­si­tio­nen oder Stel­len in Krea­tiv­be­rei­chen mit Men­schen mit einer „Migran­ten-Vita“ zu beset­zen. In Kreuz­berg gibt es eine starke Szene an Autoren, Schau­spie­lern, Regis­seu­ren, die akzent­frei Deutsch und Tür­kisch kön­nen, die haben Geschich­ten auf Lager, von denen wir nichts ahnen… man könnte sie fra­gen. Ansons­ten bin ich fest davon über­zeugt, dass wir es schaf­fen wer­den, viel­leicht nicht so schnell, wie man sich erhofft hat, aber in 100 Jah­ren wird kein Mensch mehr von die­ser Flücht­lings­welle spre­chen – weil es bis dahin neue geben wird.

Von |2019-06-10T17:26:15+02:00März 14th, 2017|Einwanderungsgesellschaft|Kommentare deaktiviert für

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Adriana Altaras ist Autorin, Schauspielerin und Theaterregisseurin.