Adriana Altaras 14. März 2017 Logo_Initiative_print.png

Migrare

Von Flücht­lings­wel­len und Erfolgsgeschichten

Wo immer ich hinkomme, nach wenigen Minuten beginnt eine heftige Debatte über die Flüchtlingspolitik der BRD, häufig negativ, meistens erhitzt, auch in meinen ansonsten „aufgeklärten“ Kreisen. Ich werde dann zunächst still, man scheint vergessen zu haben, dass ich selbst eine Migrantin bin! Migrantin mit Erfolgsgeschichte! In den USA, dem früheren Einwanderungsmekka, ist es gang und gäbe: „Jeder kann es schaffen!“ ist dort die Devise, hier in Deutschland ist man vorsichtiger, es wird nivelliert, gern nach unten hin. Das ist schade, denn die BRD hat einige Erfolgsgeschichten zu verbuchen. Als meine Eltern in den frühen 1960er Jahren mit mir nach Deutschland kamen, gab es hier ca. 8.000 Juden und 600.000 Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund, wie man das heute so hübsch nennt. Heute haben wir mittlerweile ca. sieben Millionen Ausländer und ungefähr 100.000 registrierte Juden in der Bundesrepublik. Wir fassten damals Fuß in Gießen, was wahrlich nicht der Nabel der Welt ist. Meine Eltern nahmen Abschied von ihrem bis dato geführten Leben und gaben sich Mühe, in Deutschland anzukommen. Wir fuhren regelmäßig nach Frankfurt, dort gab es immerhin in der Markthalle Espresso und Mozzarella. Mozzarella? Man hielt es damals für einen sizilianischen Tanz, heute tun die Berliner so, als sei es wie die Currywurst ihre Erfindung, vom Espresso ganz zu schweigen.

Meine Eltern hatten lange für ihre deutsche Staatsbürgerschaft gekämpft. Meine Mutter hatte über acht Jahre Anträge aller Art gestellt, und als wir schließlich 1970 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, gingen wir zum „Jugoslawen“ und feierten ausgiebig. Jugoslawien gibt es nun längst nicht mehr, aber die Kroaten und Serben, Bosnier und Mazedonier, die in Deutschland leben, schon. Meine Eltern wollten nach Deutschland, weil es die kulturelle Heimat meiner Mutter war. Beide wollten in Europa bleiben, weil sie sich trotz allem als Europäer fühlten. Heute bin ich froh darüber. Kein Land in Europa hat sich mit seiner Geschichte so heftig auseinandergesetzt und auseinandersetzen müssen. Österreich, Frankreich, Spanien und auch die angeblich so neutrale Schweiz haben da noch einiges vor sich, was die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit angeht. Damals in den 1960er Jahren jedenfalls waren wir fremd, sehr fremd hier. Mein Vater, Oberarzt an der Gießener Uniklinik, tat sich schwer im überschaubaren Gießen. Jede halbe Stunde hörte er Nachrichten auf seinem kleinen Weltempfänger, wie ein Reserveoffizier der Geschichte, den man plötzlich wieder einberufen könnte. Inzwischen fuhr meine Mutter mit ihrem Renault Clio durch Hessen, auf den Spuren des Landjudentums, das es einmal in großer Anzahl hier gegeben hatte. Irgendwann griff aber auch bei meinen Eltern die alte Emigrantenweisheit: „Richte dich ein, als wär’s auf ewig.“ Das taten sie und gründeten eine Jüdische Gemeinde. Und dabei blieb es nicht, sie sorgten dafür, dass Gießen ein neues Gemeindehaus bekam, die kleine, original erhaltene Landsynagoge aus dem Dorf Wohra wurde umgesetzt, ein Wohnheim für Stipendiaten wurde angeschlossen. Viele, sehr viele halfen ihnen. Sicher, einige taten es aus Schuldgefühlen, aus Scham. Aus dem Wunsch heraus, etwas wiedergutzumachen. Viele taten es aber freiwillig aus Freude und Begeisterung. Meine Eltern bekamen das Bundesverdienstkreuz und Gießen eine wunderschöne Synagoge.

Ich bin in Deutschland zur Schule gegangen, habe hier studiert, geheiratet, fühle mich wohl und sicher in Berlin. „Vorsicht!“ höre ich meinen Freund Raffi sagen. „Wenn es die Schoah nicht gegeben hätte, hättest du noch deine alte Heimat, und vergiss nicht: Deutschland musste gut zu euch sein!“ Vielleicht, wahrscheinlich, wer weiß. Dass Deutschland eine so große Anzahl an Flüchtlingen aufgenommen hat, hat sicher mit seiner Geschichte zu tun. Ich finde das gut, auch wenn es keine leichte Aufgabe ist und es noch sehr viel zu verbessern gibt. Ganz zu schweigen von den religiösen, kulturellen und sprachlichen Unterschieden und Barrieren – das braucht Zeit. Außerdem haben wir alle sowieso keine Wahl. Es herrscht Krieg auf der einen Hälfte der Welt, da ist die andere Hälfte gefragt zu helfen. Es gab schon immer große Völkerwanderungen aus den verschiedensten Gründen, meistens aus Not heraus, bedingt durch Hunger oder Krieg. Jetzt ist es mal wieder soweit und es ist eine Mitzwa, also eine Verpflichtung, zu helfen.

Wir „Migranten“, aus dem Latein „migrare“, sprich wandern, also wir „Wandernden“, die schon länger von der Demokratie der BRD profitieren durften, stehen mit unseren „Erfolgsgeschichten“ als gelungenes Beispiel da. Ich glaube fest an solche positiven Leitbilder. Wenn die vielen Kinder und Jugendlichen, die neu in die BRD gekommen sind, sehen, dass sie eine Chance in Deutschland haben, dass sie hier etwas lernen und werden können, ist das sicher besser, als ihnen die Angst zu vermitteln: „Wir schaffen das nicht!“ Und es würde dabei auch helfen, wenn langsam die bequemen Klischees verschwinden würden, vor allem die im Deutschen Fernsehen. Mein Rollenprofil sah über Jahrzehnte nämlich so aus: Erst war ich die Tochter, dann die Schwester, schließlich die Mutter der Diebe, Einbrecher, Mörder. Was Ausländer in deutschen Filmen halt so sind. Meinen Durchbruch hatte ich als Putzfrau.

Nun weiß ja jeder, dass nicht alle Menschen mit Migrationshintergrund zugleich Verbrecher sind. Tja, nicht alle, aber leider, leider doch eine Menge, also eine sehr große Menge, das kann man doch jeden Tag im Fernsehen sehen. Sie sind allesamt Analphabeten, haben einen Döner- oder Gemüseladen, sowohl im Vorabendprogramm als auch zur prime time, und wenn es Juden sind, dann sind sie reich und handeln mit Immobilien…
„Gebraucht werden“ könnte ein Schlüsselwort sein, und sicher ist es an der Zeit, Leitungspositionen oder Stellen in Kreativbereichen mit Menschen mit einer „Migranten-Vita“ zu besetzen. In Kreuzberg gibt es eine starke Szene an Autoren, Schauspielern, Regisseuren, die akzentfrei Deutsch und Türkisch können, die haben Geschichten auf Lager, von denen wir nichts ahnen… man könnte sie fragen. Ansonsten bin ich fest davon überzeugt, dass wir es schaffen werden, vielleicht nicht so schnell, wie man sich erhofft hat, aber in 100 Jahren wird kein Mensch mehr von dieser Flüchtlingswelle sprechen – weil es bis dahin neue geben wird.

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