Anti­se­mi­tis­mus ist All­tag in der deut­schen Gesellschaft

Der­vis Hız­arcı im Gespräch

Der­vis Hız­arcı war der Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­be­auf­tragte der Ber­li­ner Senats­ver­wal­tung für Bil­dung, Jugend und Fami­lie und ist Experte für Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus. Mit San­dra Win­zer spricht er über Ungleich­be­hand­lung in der Schule, die Reak­tion von Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern auf anti­se­mi­ti­sche Vor­fälle und dar­über, wie wich­tig die Spra­che ist, die wir verwenden.

San­dra Win­zer: „Wir haben ein Anti­se­mi­tis­mus­pro­blem“ – das haben Sie 2018 ganz klar in einem Arti­kel so for­mu­liert. Ein Jahr spä­ter titel­ten Sie: „Wir haben ein Dis­kri­mi­nie­rungs­pro­blem“ – wie äußern sich diese Probleme?
Der­vis Hız­arcı: Diese Arti­kel sind in der Regel anlass­be­zo­gen; ich schreibe sie etwa nach aktu­el­len anti­se­mi­ti­schen Vor­komm­nis­sen. Hier braucht es klare Aus­sa­gen, die deut­lich ver­mit­teln, dass man zu die­sen The­men nicht schwei­gen kann. Es braucht eine klare Benen­nung der Lage, ohne dabei zu rei­ße­risch zu wir­ken. Fakt ist: Anti­se­mi­tis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung sind in der deut­schen Gesell­schaft All­tag. Wir erle­ben sie überall.

Wie genau äußert sich das?
Anti­se­mi­tis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung muss man von ein­zel­nen Fäl­len hin zur struk­tu­rel­len Dimen­sion den­ken. Ein Bei­spiel ist etwa Ungleich­be­hand­lung in der Schule. Aus mei­nen Erfah­run­gen als Schü­ler, als Leh­rer und auch als ehe­ma­li­ger Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­be­auf­trag­ter des Ber­li­ner Bil­dungs­se­nats kann ich sagen, dass es Leh­re­rin­nen und Leh­rer gibt, die mit einem vor­ur­teils­be­la­de­nen Blick auf Kin­der und Jugend­li­che und deren Fami­lien schauen. Nicht immer, aber lei­der oft führt das dazu, dass z. B. mus­li­mi­sche Kin­der sel­te­ner Emp­feh­lun­gen für wei­ter­füh­rende Schu­len oder schlech­tere Noten für glei­che Leis­tun­gen bekom­men. Pas­siert das in vie­len Berei­chen des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens und über meh­rere Gene­ra­tio­nen hin­weg, führt das zu einer gesell­schaft­li­chen Ver­an­ke­rung von Unge­rech­tig­keit und Diskriminierung.

Auch bei Anti­se­mi­tis­mus erle­ben wir, dass einige Aus­prä­gun­gen sich in Rich­tung Main­stream bewe­gen. Immer und immer wie­der ver­wen­den Men­schen – oft auch Jugend­li­che – das Wort „Jude“ als Schimpf­wort. Manch­mal wol­len junge Men­schen die Gren­zen des Sag­ba­ren aus­tes­ten; gleich­zei­tig ste­cken aber auch Res­sen­ti­ments dahin­ter, die nicht igno­riert wer­den dürfen.

Wie reagie­ren deut­sche Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker auf anti­se­mi­ti­sche Vor­fälle aus Ihrer Sicht?
Ich glaube, dass viele Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker über sol­che Vor­fälle in der Tat erschüt­tert sind, die Reak­tio­nen jedoch oft der Wie­der­gabe von etwas Abruf­ba­rem glei­chen. Man­che Aus­sa­gen wir­ken auf mich bei­nahe aus­wen­dig gelernt. Wenn ich mich als Poli­ti­ke­rin oder Poli­ti­ker z. B. auf Twit­ter über Ras­sis­mus empöre und dadurch Likes gene­riere, kann ich leicht glau­ben, dass es damit getan ist. Eine öffent­li­che Posi­tio­nie­rung ist rich­tig und wich­tig, doch Poli­tik muss ver­ste­hen, dass Tweets nicht rei­chen. Es braucht Prä­ven­ti­ons- und Inter­ven­ti­ons­maß­nah­men, und das auf einer sta­bi­len Grund­lage, die sich nicht nach Push-Nach­rich­ten richtet.

Wie äußert sich für Sie das „Aus­wen­dig­ge­lernt-Sein“? Welche
Reak­tio­nen hal­ten Sie für sinn­voller, um eine sol­che Gebets­müh­len­ar­tig­keit zu vermeiden?
Die Erfah­rung zeigt, dass etwa Eska­la­tion der Gewalt im Nahen Osten oft zu anti­se­mi­ti­schen Vor­komm­nis­sen auf deut­schen Stra­ßen führt. Als Reak­tion fol­gen Tweets und State­ments von Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­kern zu die­sem Thema, drei Tage spä­ter ist das Ganze aus den Schlag­zei­len ver­schwun­den und das Karus­sell dreht sich wei­ter. Warum nut­zen wir unsere Erfah­run­gen nicht kon­struk­tiv und brin­gen Men­schen zusam­men, die sich kon­kret mit Lösungs­an­sät­zen für Deutsch­land beschäf­ti­gen? Das kön­nen Men­schen aus der Poli­tik, der Wis­sen­schaft, dem Bil­dungs­be­reich und Com­mu­ni­ties sein. Viel­leicht braucht es auch eine dif­fe­ren­zierte, betont demo­kra­ti­sche und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Bewe­gung, die alle Kon­flikt­par­teien und Sicht­wei­sen einbezieht.

Aus Ihrer Sicht reicht es nicht „nur“ Gedenk­stät­ten mit Schul­klas­sen zu besu­chen oder Anne Frank zu lesen … Was brau­chen wir zusätz­lich, um auch junge Men­schen mit dem Thema Anti­semitismus zu erreichen?
Junge Men­schen pro­ji­zie­ren ihre Frus­tra­tion – etwa über die eigene Lebens­si­tua­tion und Dis­kri­mi­nie­rungs­er­fah­run­gen – und die Sehn­sucht nach Zuge­hö­rig­keit oft auf andere The­men und Kon­flikte. Es sind meist The­men, die Jugend­li­che emo­tio­nal errei­chen und ihren Gerech­tig­keits­sinn beschäf­ti­gen. Der Israel-Paläs­tina-Kon­flikt ist ein sol­ches Thema, aber auch Tür­kei-bezo­gene Kon­flikte wie der Geno­zid an Arme­ni­ern oder der Umgang mit Kur­den. Viele Jugend­li­che, die in Deutsch­land auf­ge­wach­sen sind, iden­ti­fi­zie­ren sich in die­sem Moment nicht mehr mit Deutsch­land, son­dern mit den genann­ten Län­dern oder Grup­pen. Selbst­ver­ständ­lich dür­fen Russ­land-Ukraine- oder Israel-Paläs­tina-Kon­flikte nicht auf dem Schul­hof in Deutsch­land aus­ge­tra­gen werden.

Zivil­ge­sell­schaft und Bil­dung müs­sen hier anset­zen und Schü­le­rin­nen und Schü­lern hel­fen, ihre nach­voll­zieh­bare emo­tio­na­len Betrof­fen­heit nicht in Wut zu kana­li­sie­ren. Wich­ti­ger wäre, sich mit der Kom­ple­xi­tät der The­men zu beschäf­ti­gen. Nar­ra­tive und Per­spek­ti­ven aus eige­nen Fami­li­en­ge­schich­ten dür­fen dabei nicht klein gere­det wer­den. Wir müs­sen ver­mit­teln, dass auch Jugend­li­che mit Migra­ti­ons­ge­schichte ein selbst­ver­ständ­li­cher Teil der deut­schen Gesell­schaft sind. Schließ­lich sind die meis­ten hier auf­ge­wach­sen und sozia­li­siert. Hier­für brau­chen wir gute Integration.

Im Tages­spie­gel sag­ten Sie: „Wir sind ganz klar eine Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft“ – Was ver­ste­hen Sie unter dem Begriff – die braucht ja auch gute Integration?
Viele haben es in den letz­ten Jahr­zehn­ten ver­passt, zu ver­ste­hen, dass Deutsch­land ein Ein­wan­de­rungs­land ist. So rich­tig ist das bei einem Teil der Bevöl­ke­rung noch immer nicht ganz ange­kom­men. Das hat auch mit gesetz­li­chen Anpas­sun­gen zu tun, die not­wen­dig wären. In den 2000er-Jah­ren haben wir es immer­hin geschafft, ver­mehrt über Zuwan­de­rung zu spre­chen. Hier­bei ging es aber zu wenig darum, die Men­schen auch als Teil der deut­schen Gesell­schaft zu inte­grie­ren  – zu häu­fig ging es noch um ein „Wie­der­los­wer­den“. So kann eine mul­ti­di­verse Gesell­schaft nicht zusammenwachsen.

Unter „Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft“ ver­stehe ich eine Gesell­schaft, die das Phä­no­men „Migra­tion“ klar aner­kennt und einen selbst­ver­ständ­li­chen Umgang damit fin­det. Men­schen mit Flucht­er­fah­rung etwa sind ein selbst­ver­ständ­li­cher Teil der Gesell­schaft. Men­schen, die in drit­ter oder vier­ter Gene­ra­tion eine Gast­ar­bei­ter-Migra­ti­ons­ge­schichte haben, gehö­ren selbst­ver­ständ­lich dazu. In einer sol­chen Gesell­schaft bezeich­net man Juden nicht als „Mit­bür­ger“. Sie sind kein „Add-On“, son­dern fes­ter Bestand­teil der Com­mu­nity. Des­we­gen müs­sen sie alle auch bei The­men, die unsere Gesell­schaft betref­fen, selbst­ver­ständ­lich mit­re­den dür­fen. Nie­mand darf sich in einer Bitt­stel­ler-Posi­tion wie­der­fin­den müssen.

Gleich­zei­tig brau­chen wir die Ein­sicht, dass hete­ro­gene Klas­sen in Schu­len selbst­ver­ständ­lich sind. Es ist nicht Rea­li­tät der deut­schen Gesell­schaft, dass Müt­ter und Väter mit bil­dungs­si­che­rem Hin­ter­grund ihren Kin­dern abends bei den Haus­auf­ga­ben hel­fen. In den Schul­klas­sen fin­det sich eine andere deut­sche Gesell­schaft wie­der: „Mah­muds, Fati­mas, Leo­nies und Kevins“ ler­nen alle gemein­sam in einer Klasse. Man­che kom­men aus sozial schwa­chen Fami­lien oder wer­den mit weni­ger Büchern groß. Trotz­dem müs­sen wir alle gleich behan­deln und indi­vi­du­ell för­dern. Wenn ein­zelne Kin­der über­for­dert sind, darf das nicht zu einer Über­for­de­rung der Lehr­kräfte füh­ren. Aus­sa­gen wie „Die sind eben so. Da kann man nichts machen“ sind eine Bank­rott­erklä­rung und dür­fen nicht Teil des Schul­all­tags sein.

Ich habe den Ein­druck, dass gerade die Spra­che, die wir ver­wen­den, bei die­sem Thema eine der zen­trals­ten Rol­len spielt.
Abso­lut. Durch Spra­che drü­cken wir Hal­tung aus. Wir müs­sen Begriffe fin­den, die zusam­men­füh­ren und inklu­die­ren. Spra­che ist ein Mit­tel im Pro­zess, sie darf keine Schranke sein, die Men­schen, die in Deutsch­land leben, für Zuge­hö­rig­keit erst über­win­den müs­sen. Wäh­len wir exklu­die­rende Begriffe, kann es keine erfolg­rei­che Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft geben. Wol­len wir das Beste aus dem Zusam­men­le­ben machen, müs­sen wir wert­schät­zende Aus­drü­cke wäh­len. Die­ser Pro­zess kann über Gene­ra­tio­nen hin­weg dauern.

Wel­chen Zusam­men­hang gibt es zwi­schen Anti­se­mi­tis­mus und Verschwörungstheorien?
Ein Groß­teil der aktu­el­len Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien haben anti­se­mi­ti­sche Grund­struk­tu­ren – in Quer­den­ker-Sze­nen, bei Reichs­bür­gern oder in den sozia­len Medien. Das beginnt bei Coro­na­imp­fun­gen und angeb­lich implan­tier­ten Chips und endet bei Erzäh­lun­gen über den „Great Exch­ange“, der angeb­lich eine „weiße Rasse“ ver­nich­ten soll. Egal, wie ver­rückt die Fan­tas­te­reien sind – mir fällt keine Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gie ein, die nicht auch anti­se­mi­ti­sche Züge hat.

Was kön­nen wir tun, um dem ent­ge­gen­zu­tre­ten? Was ist aus Ihrer Sicht als Nächs­tes zu tun?
Ich wün­sche mir eine stär­kere Anti­se­mi­tis­mus- und Ras­sis­mus-kri­ti­sche Bil­dungs­ar­beit – im staat­li­chen Sys­tem „Schule“, bei der Lehr­kräfte-Aus­bil­dung, in Lehr­plä­nen aber auch bei außer­schu­li­schen Bil­dungs­an­ge­bo­ten. Außer­dem möchte ich, dass andere Kul­tur­for­mate noch akti­ver wer­den. In der Kreuz­ber­ger Initia­tive für Anti­se­mi­tis­mus in Ber­lin (KIgA) haben wir Ange­bote geschaf­fen, mit denen wir jüdi­sches Leben sicht­bar und selbst­ver­ständ­lich machen wol­len. Jüdin­nen und Juden spre­chen hier über Iden­ti­täts­fra­gen, über ihren All­tag; hier geht es vor allem darum, sich gegen­sei­tig ken­nen­zu­ler­nen. Inte­gra­tion fin­det durch Ver­ste­hen, Ken­nen­ler­nen und Respekt statt. Hier­aus kann schließ­lich Zusam­men­halt und viel­leicht sogar Liebe wachsen.

Wir müs­sen die so genannte „Mitte“ stär­ken und mit Vor­ver­ur­tei­lun­gen und Pau­scha­li­sie­run­gen spar­sam umge­hen. In einer auf­ge­klär­ten Gesell­schaft braucht es das nicht. Ich selbst bin gläu­bi­ger Mos­lem und habe, wie eigent­lich alle Men­schen hier, in Iden­ti­täts- und Zuge­hö­rig­keits­fra­gen eine große Sehn­sucht, Teil von Deutsch­land zu sein. Ansätze in der Päd­ago­gik, der Spra­che, im Bil­dungs­sys­tem und in der Kul­tur sind der Schlüs­sel zur Bekämp­fung von Ras­sis­mus und Antisemitismus.

Vie­len Dank.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2022.

Von |2022-08-05T09:55:55+02:00Juni 3rd, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Der­vis Hız­arcı im Gespräch

Dervis Hızarcı war der Antidiskrimi­nierungsbeauftragte der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie und ist Experte für Rassismus und Antisemitismus. Er ist im Beraterkreis der Beauftragten für Jüdisches Leben und gegen Antisemitismus in Deutschland und seit vielen Jahren ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus „KIgA“. Sandra Winzer ist ARD-Journalistin beim Hessischen Rundfunk.