Dervis Hızarcı & Sandra Winzer 3. Juni 2022 Logo_Initiative_print.png

Anti­se­mi­tis­mus ist All­tag in der deut­schen Gesellschaft

Der­vis Hız­arcı im Gespräch

Dervis Hızarcı war der Antidiskriminierungsbeauftragte der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie und ist Experte für Rassismus und Antisemitismus. Mit Sandra Winzer spricht er über Ungleichbehandlung in der Schule, die Reaktion von Politikerinnen und Politikern auf antisemitische Vorfälle und darüber, wie wichtig die Sprache ist, die wir verwenden.

Sandra Winzer: „Wir haben ein Antisemitismusproblem“ – das haben Sie 2018 ganz klar in einem Artikel so formuliert. Ein Jahr später titelten Sie: „Wir haben ein Diskriminierungsproblem“ – wie äußern sich diese Probleme?
Dervis Hızarcı: Diese Artikel sind in der Regel anlassbezogen; ich schreibe sie etwa nach aktuellen antisemitischen Vorkommnissen. Hier braucht es klare Aussagen, die deutlich vermitteln, dass man zu diesen Themen nicht schweigen kann. Es braucht eine klare Benennung der Lage, ohne dabei zu reißerisch zu wirken. Fakt ist: Antisemitismus und Diskriminierung sind in der deutschen Gesellschaft Alltag. Wir erleben sie überall.

Wie genau äußert sich das?
Antisemitismus und Diskriminierung muss man von einzelnen Fällen hin zur strukturellen Dimension denken. Ein Beispiel ist etwa Ungleichbehandlung in der Schule. Aus meinen Erfahrungen als Schüler, als Lehrer und auch als ehemaliger Antidiskriminierungsbeauftragter des Berliner Bildungssenats kann ich sagen, dass es Lehrerinnen und Lehrer gibt, die mit einem vorurteilsbeladenen Blick auf Kinder und Jugendliche und deren Familien schauen. Nicht immer, aber leider oft führt das dazu, dass z. B. muslimische Kinder seltener Empfehlungen für weiterführende Schulen oder schlechtere Noten für gleiche Leistungen bekommen. Passiert das in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und über mehrere Generationen hinweg, führt das zu einer gesellschaftlichen Verankerung von Ungerechtigkeit und Diskriminierung.

Auch bei Antisemitismus erleben wir, dass einige Ausprägungen sich in Richtung Mainstream bewegen. Immer und immer wieder verwenden Menschen – oft auch Jugendliche – das Wort „Jude“ als Schimpfwort. Manchmal wollen junge Menschen die Grenzen des Sagbaren austesten; gleichzeitig stecken aber auch Ressentiments dahinter, die nicht ignoriert werden dürfen.

Wie reagieren deutsche Politikerinnen und Politiker auf antisemitische Vorfälle aus Ihrer Sicht?
Ich glaube, dass viele Politikerinnen und Politiker über solche Vorfälle in der Tat erschüttert sind, die Reaktionen jedoch oft der Wiedergabe von etwas Abrufbarem gleichen. Manche Aussagen wirken auf mich beinahe auswendig gelernt. Wenn ich mich als Politikerin oder Politiker z. B. auf Twitter über Rassismus empöre und dadurch Likes generiere, kann ich leicht glauben, dass es damit getan ist. Eine öffentliche Positionierung ist richtig und wichtig, doch Politik muss verstehen, dass Tweets nicht reichen. Es braucht Präventions- und Interventionsmaßnahmen, und das auf einer stabilen Grundlage, die sich nicht nach Push-Nachrichten richtet.

Wie äußert sich für Sie das „Auswendiggelernt-Sein“? Welche
Reaktionen halten Sie für sinn­voller, um eine solche Gebetsmühlenartigkeit zu vermeiden?
Die Erfahrung zeigt, dass etwa Eskalation der Gewalt im Nahen Osten oft zu antisemitischen Vorkommnissen auf deutschen Straßen führt. Als Reaktion folgen Tweets und Statements von Politikerinnen und Politikern zu diesem Thema, drei Tage später ist das Ganze aus den Schlagzeilen verschwunden und das Karussell dreht sich weiter. Warum nutzen wir unsere Erfahrungen nicht konstruktiv und bringen Menschen zusammen, die sich konkret mit Lösungsansätzen für Deutschland beschäftigen? Das können Menschen aus der Politik, der Wissenschaft, dem Bildungsbereich und Communities sein. Vielleicht braucht es auch eine differenzierte, betont demokratische und antisemitismuskritische Bewegung, die alle Konfliktparteien und Sichtweisen einbezieht.

Aus Ihrer Sicht reicht es nicht „nur“ Gedenkstätten mit Schulklassen zu besuchen oder Anne Frank zu lesen … Was brauchen wir zusätzlich, um auch junge Menschen mit dem Thema Anti­semitismus zu erreichen?
Junge Menschen projizieren ihre Frustration – etwa über die eigene Lebenssituation und Diskriminierungserfahrungen – und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit oft auf andere Themen und Konflikte. Es sind meist Themen, die Jugendliche emotional erreichen und ihren Gerechtigkeitssinn beschäftigen. Der Israel-Palästina-Konflikt ist ein solches Thema, aber auch Türkei-bezogene Konflikte wie der Genozid an Armeniern oder der Umgang mit Kurden. Viele Jugendliche, die in Deutschland aufgewachsen sind, identifizieren sich in diesem Moment nicht mehr mit Deutschland, sondern mit den genannten Ländern oder Gruppen. Selbstverständlich dürfen Russland-Ukraine- oder Israel-Palästina-Konflikte nicht auf dem Schulhof in Deutschland ausgetragen werden.

Zivilgesellschaft und Bildung müssen hier ansetzen und Schülerinnen und Schülern helfen, ihre nachvollziehbare emotionalen Betroffenheit nicht in Wut zu kanalisieren. Wichtiger wäre, sich mit der Komplexität der Themen zu beschäftigen. Narrative und Perspektiven aus eigenen Familiengeschichten dürfen dabei nicht klein geredet werden. Wir müssen vermitteln, dass auch Jugendliche mit Migrationsgeschichte ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft sind. Schließlich sind die meisten hier aufgewachsen und sozialisiert. Hierfür brauchen wir gute Integration.

Im Tagesspiegel sagten Sie: „Wir sind ganz klar eine Einwanderungsgesellschaft“ – Was verstehen Sie unter dem Begriff – die braucht ja auch gute Integration?
Viele haben es in den letzten Jahrzehnten verpasst, zu verstehen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. So richtig ist das bei einem Teil der Bevölkerung noch immer nicht ganz angekommen. Das hat auch mit gesetzlichen Anpassungen zu tun, die notwendig wären. In den 2000er-Jahren haben wir es immerhin geschafft, vermehrt über Zuwanderung zu sprechen. Hierbei ging es aber zu wenig darum, die Menschen auch als Teil der deutschen Gesellschaft zu integrieren  – zu häufig ging es noch um ein „Wiederloswerden“. So kann eine multidiverse Gesellschaft nicht zusammenwachsen.

Unter „Einwanderungsgesellschaft“ verstehe ich eine Gesellschaft, die das Phänomen „Migration“ klar anerkennt und einen selbstverständlichen Umgang damit findet. Menschen mit Fluchterfahrung etwa sind ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Menschen, die in dritter oder vierter Generation eine Gastarbeiter-Migrationsgeschichte haben, gehören selbstverständlich dazu. In einer solchen Gesellschaft bezeichnet man Juden nicht als „Mitbürger“. Sie sind kein „Add-On“, sondern fester Bestandteil der Community. Deswegen müssen sie alle auch bei Themen, die unsere Gesellschaft betreffen, selbstverständlich mitreden dürfen. Niemand darf sich in einer Bittsteller-Position wiederfinden müssen.

Gleichzeitig brauchen wir die Einsicht, dass heterogene Klassen in Schulen selbstverständlich sind. Es ist nicht Realität der deutschen Gesellschaft, dass Mütter und Väter mit bildungssicherem Hintergrund ihren Kindern abends bei den Hausaufgaben helfen. In den Schulklassen findet sich eine andere deutsche Gesellschaft wieder: „Mahmuds, Fatimas, Leonies und Kevins“ lernen alle gemeinsam in einer Klasse. Manche kommen aus sozial schwachen Familien oder werden mit weniger Büchern groß. Trotzdem müssen wir alle gleich behandeln und individuell fördern. Wenn einzelne Kinder überfordert sind, darf das nicht zu einer Überforderung der Lehrkräfte führen. Aussagen wie „Die sind eben so. Da kann man nichts machen“ sind eine Bankrotterklärung und dürfen nicht Teil des Schulalltags sein.

Ich habe den Eindruck, dass gerade die Sprache, die wir verwenden, bei diesem Thema eine der zentralsten Rollen spielt.
Absolut. Durch Sprache drücken wir Haltung aus. Wir müssen Begriffe finden, die zusammenführen und inkludieren. Sprache ist ein Mittel im Prozess, sie darf keine Schranke sein, die Menschen, die in Deutschland leben, für Zugehörigkeit erst überwinden müssen. Wählen wir exkludierende Begriffe, kann es keine erfolgreiche Einwanderungsgesellschaft geben. Wollen wir das Beste aus dem Zusammenleben machen, müssen wir wertschätzende Ausdrücke wählen. Dieser Prozess kann über Generationen hinweg dauern.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Antisemitismus und Verschwörungstheorien?
Ein Großteil der aktuellen Verschwörungsideologien haben antisemitische Grundstrukturen – in Querdenker-Szenen, bei Reichsbürgern oder in den sozialen Medien. Das beginnt bei Coronaimpfungen und angeblich implantierten Chips und endet bei Erzählungen über den „Great Exchange“, der angeblich eine „weiße Rasse“ vernichten soll. Egal, wie verrückt die Fantastereien sind – mir fällt keine Verschwörungsideologie ein, die nicht auch antisemitische Züge hat.

Was können wir tun, um dem entgegenzutreten? Was ist aus Ihrer Sicht als Nächstes zu tun?
Ich wünsche mir eine stärkere Antisemitismus- und Rassismus-kritische Bildungsarbeit – im staatlichen System „Schule“, bei der Lehrkräfte-Ausbildung, in Lehrplänen aber auch bei außerschulischen Bildungsangeboten. Außerdem möchte ich, dass andere Kulturformate noch aktiver werden. In der Kreuzberger Initiative für Antisemitismus in Berlin (KIgA) haben wir Angebote geschaffen, mit denen wir jüdisches Leben sichtbar und selbstverständlich machen wollen. Jüdinnen und Juden sprechen hier über Identitätsfragen, über ihren Alltag; hier geht es vor allem darum, sich gegenseitig kennenzulernen. Integration findet durch Verstehen, Kennenlernen und Respekt statt. Hieraus kann schließlich Zusammenhalt und vielleicht sogar Liebe wachsen.

Wir müssen die so genannte „Mitte“ stärken und mit Vorverurteilungen und Pauschalisierungen sparsam umgehen. In einer aufgeklärten Gesellschaft braucht es das nicht. Ich selbst bin gläubiger Moslem und habe, wie eigentlich alle Menschen hier, in Identitäts- und Zugehörigkeitsfragen eine große Sehnsucht, Teil von Deutschland zu sein. Ansätze in der Pädagogik, der Sprache, im Bildungssystem und in der Kultur sind der Schlüssel zur Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.

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