Kul­tu­relle Teil­habe för­dert die Demokratie

Dis­kurse, empi­ri­sche Befunde und Strategien

„Kul­tu­relle Teil­habe“ ist omni­prä­sent im kul­tur­po­li­ti­schen Dis­kurs in Deutsch­land. So ist auf kubi-online als größ­ter Publi­ka­ti­ons­platt­form für kul­tu­relle Bil­dung in Deutsch­land das Thema Teil­habe und Par­ti­zi­pa­tion vor Diver­si­tät und Trans­for­ma­tion am häu­figs­ten in den Arti­keln ver­tre­ten (Hüb­ner 2023). Kul­tu­relle Teil­habe, bezo­gen auf den Kul­tur­sek­tor, lässt sich unter­schei­den in Teil­habe als Publi­kum und Rezi­pi­en­tin von künst­le­ri­schen und kul­tu­rel­len Ange­bo­ten, aktive Teil­habe als Ama­teur oder Hob­by­künst­le­rin sowie Teil­habe durch Mit­be­stim­mung über kul­tu­relle Ange­bote, wofür der Begriff „Par­ti­zi­pa­tion“ steht. Wir­kun­gen von kul­tu­rel­ler Teil­habe wer­den auf der indi­vi­du­el­len Ebene (Empower­ment), der sozia­len und gesell­schaft­li­chen Ebene (Zusam­men­halt) und auf der poli­ti­schen Ebene (Mit­be­stim­men) gese­hen. Viel­fach wird ange­nom­men, dass kul­tu­relle Teil­habe gesell­schaft­li­che Teil­habe för­dern und zur Demo­kra­tie­fä­hig­keit bei­tra­gen kann.

In einer plu­ra­len Gesell­schaft mit viel­fäl­ti­gen kul­tu­rel­len Ansprü­chen muss sich auch staat­li­che Kul­tur­för­de­rung zuneh­mend über das Para­digma der kul­tu­rel­len Teil­habe legi­ti­mie­ren. Die im inter­na­tio­na­len Ver­gleich sehr hohe öffent­li­che Kul­tur­för­de­rung mit ins­ge­samt 15 Mil­li­ar­den Euro jähr­lich for­dert die Frage nach Teil­ha­be­ge­rech­tig­keit heraus.

Wenn Ber­lins Regie­ren­der Bür­ger­meis­ter ange­sichts aktu­el­ler Kür­zungs­de­bat­ten für Kul­tur­aus­ga­ben die Super­markt-Kas­sie­re­rin ins Spiel bringt, die die drei Ber­li­ner Opern mit ihren Steu­er­zah­lun­gen mit­fi­nan­zie­ren müsse, obwohl sie diese eher nicht besu­che, weist dies auf eine aktu­elle Dis­kurs­ver­schie­bung hin, ebenso wie auf die kul­tur­po­li­ti­sche Para­do­xie kul­tu­rel­ler Teilhabe.

Denn wenn wir einen brei­ten anthro­po­lo­gi­schen, all­tags- und popu­lär­kul­tu­rel­len Kul­tur­be­griff zugrunde legen, hat eigent­lich jeder Mensch an Kul­tur teil und prägt sie mit. In Deutsch­land wird Kul­tur hin­ge­gen impli­zit häu­fig auf die als „legi­tim“ gel­ten­den, eher hoch­kul­tu­rel­len Kunst- und Kul­tur­ange­bote fokus­siert, die de facto vor allem von höher gebil­de­ten und sozial bes­ser gestell­ten Grup­pen wahr­ge­nom­men werden.

Dis­kurse

In der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land wurde das Thema offen­siv Ende der 1970er Jahre mit Hil­mar Hoff­manns For­de­rung einer „Kul­tur für alle“ und Her­mann Gla­sers Votum für ein „Bür­ger­recht Kul­tur“ in den kul­tur­po­li­ti­schen Dis­kurs gebracht. In der kul­tur­po­li­ti­schen Pra­xis wollte Hoff­mann die­sen Anspruch vor allem über den Aus­bau von Kul­tur­ver­mitt­lung in klas­si­schen Kul­tur­ein­rich­tun­gen durch­set­zen, wäh­rend Gla­ser sich vor allem für die För­de­rung all­tags­na­her sozio­kul­tu­rel­ler Zen­tren auch im Sinne einer „Kul­tur von allen“ einsetzte.

In der DDR wur­den Kunst und Kul­tur eine zen­trale Rolle bei der Her­aus­bil­dung sozia­lis­ti­scher Per­sön­lich­kei­ten bei­gemes­sen. Eine umfas­sende Kul­tur­ver­mitt­lung war als Staat­ziel ver­an­kert. Der Staat sorgte flä­chen­de­ckend dafür, dass sowohl klas­si­sche wie popu­läre Kul­tur und die von der SED befür­wor­tete zeit­ge­nös­si­sche Kunst in alle Berei­che des Lebens und Arbei­tens inte­griert waren (Mandel/Wolf 2020).

Die in Eng­land ent­wi­ckel­ten Cul­tu­ral Stu­dies stell­ten sich seit Anfang der 1970er Jahre gegen eine Hier­ar­chi­sie­rung von legi­ti­men und weni­ger legi­ti­men Kul­tur­for­men und plä­dier­ten für die gleich­wer­tige Aner­ken­nung popu­lä­rer Kul­tur, die für einen Groß­teil der Bevöl­ke­rung bedeut­sam und attrak­tiv ist. In Hin­blick auf eine breite kul­tu­relle Teil­habe gab es in Deutsch­land vor allem seit den 2010er Jah­ren inten­sive Debat­ten um eine höhere Diver­si­tät in der Aus­rich­tung des staat­lich sub­ven­tio­nier­ten Kul­tur­ange­bo­tes und eine kri­ti­sche Hin­ter­fra­gung des klas­si­schen Kul­tur­ka­nons (Ter­kes­si­dis 2015).

Kul­tur­po­li­tisch bewegt sich der Dis­kurs zu kul­tu­rel­ler Teil­habe zwi­schen den Polen einer „Demo­kra­ti­sie­rung von Hoch­kul­tur“ im Sinne der Her­an­füh­rung mög­lichst vie­ler an die von gesell­schaft­li­chen Eli­ten und Exper­ten defi­nier­ten, öffent­lich geför­der­ten „legi­ti­men“ Ange­bote und dem Kon­zept der „Kul­tu­rel­len Demo­kra­tie“, bei dem die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger auf Basis eines brei­ten, nicht nor­ma­ti­ven Kul­tur­be­griffs mit­ent­schei­den kön­nen, wel­che Kul­tur­for­men für sie wich­tig sind und vom Staat sub­ven­tio­niert wer­den sollten.

Empi­ri­sche Befunde

Anders als etwa in Eng­land und Frank­reich gibt es in Deutsch­land keine regel­mä­ßi­gen staat­li­chen Befra­gun­gen zu den kul­tu­rel­len Akti­vi­tä­ten der Bevöl­ke­rung. Aus unter­schied­li­chen Stu­dien, vor allem aus der BMBF-finan­zier­ten Bevöl­ke­rungs­be­fra­gung der Uni­ver­si­tät Mainz, las­sen sich jedoch rela­tiv valide Daten ablei­ten (Otte 2019).

Die häu­figs­ten kul­tu­rel­len Akti­vi­tä­ten fin­den zuhause statt: Musik im Radio hören (85 Pro­zent), Spiel­filme anschauen (80 Pro­zent), Bücher lesen (66 Pro­zent), Com­pu­ter­spiele (39 Pro­zent). Deut­lich weni­ger häu­fig wer­den eigene künst­le­risch-kul­tu­relle Akti­vi­tä­ten aus­ge­übt: kunst­hand­werk­lich arbei­ten (41 Pro­zent), künst­le­risch Foto­gra­fie­ren (29 Pro­zent), Malen/Zeichnen (26 Pro­zent), Sin­gen (14 Pro­zent), Tan­zen (15 Pro­zent), Musik­in­stru­ment spie­len (13 Pro­zent). Die häu­figs­ten außer­häu­si­gen Kul­tur­be­su­che (min­des­tens ein­mal pro Jahr) sind Besu­che von: Schlösser/Burgen/religiösen Bau­ten (72 Pro­zent), Kino (59 Pro­zent), Kunst­aus­stel­lun­gen (37 Pro­zent), Thea­ter (34 Pro­zent), Biblio­the­ken (30 Pro­zent), Rock/­Pop-Kon­zerte (28 Pro­zent), Klas­si­sche Kon­zerte (22 Pro­zent). Auf dem letz­ten Platz liegt der Opern­be­such (8 Prozent).

Bil­dung erweist sich in vie­len Stu­dien als zen­tra­ler Ein­fluss­fak­tor auf kul­tu­relle Teil­habe. Auch die Stu­die von Otte (2019) kommt zu dem Fazit: „Beson­ders bil­dungs­se­lek­tiv ist das Publi­kum künst­le­ri­scher Ange­bote mit hoher öffent­li­cher För­de­rung. (Oper, Ballett/Tanz, Klas­sik­kon­zerte, Kunst­mu­seen). Kul­tur für alle ist bei wei­tem nicht realisiert“.

Und den­noch befür­wor­tet die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung die hohen staat­li­chen Sub­ven­tio­nen für Thea­ter, Opern und Museen (Man­del 2020; Deut­scher Muse­ums­bund 2024, Sent­o­bib 2025). Kunst- und Kul­tur­ein­rich­tun­gen gel­ten als gesell­schaft­lich wert­volle und unver­zicht­bare Ein­rich­tun­gen auch bei den­je­ni­gen, die diese selbst nicht nut­zen. Dabei wird vor allem der Wert für Kin­der und Jugend­li­che und für kul­tu­relle Bil­dung her­vor­ge­ho­ben (Man­del 2020).

Stra­te­gien

Das Recht auf kul­tu­relle Teil­habe ist zwar in der all­ge­mei­nen Men­schen­rechts­kon­ven­tion ver­an­kert, in Deutsch­land jedoch, anders als etwa in Frank­reich, nicht im Grund­ge­setz. Pierre Bour­dieu zeigte erst­mals 1979 auf brei­ter empi­ri­scher Basis, wie die Rezep­tion bestimm­ter hoch­kul­tu­rel­ler Ver­an­stal­tun­gen zur sozia­len Distink­tion bei­trägt und wie die tief ver­an­kerte Kennt­nis kul­tu­rel­ler Codes, die erst zu einer sol­chen Rezep­tion befä­hi­gen, sich zu kul­tu­rel­lem Kapi­tal akku­mu­liert, das sich dann auch als sozia­les Kapi­tal erweist. Aus dem Befund ungleich ver­teil­ter Teil­ha­be­chan­cen in der Bevöl­ke­rung, die stark vom jewei­li­gen sozia­len und Bil­dungs-Hin­ter­grund der Eltern­häu­ser als zen­trale Kul­tur­ver­mitt­ler (Jugend­kul­tur­ba­ro­me­ter 2012) abhän­gen, lässt sich die For­de­rung ablei­ten, dass der Staat dies aus­zu­glei­chen habe (Sen1999).

Eine chan­cen­ge­rechte kul­tu­relle Teil­habe wäre erreicht, wenn alle Men­schen Zugang zu einem brei­ten Spek­trum kul­tu­rel­ler Ange­bote und künst­le­risch-ästhe­ti­scher Aus­drucks­for­men hät­ten. Pri­mä­res Ziel wäre nicht ein Her­an­füh­ren an bestimmte (hoch­kul­tu­relle) Ange­bote im Sinne des Audi­ence Deve­lo­p­ment, son­dern zu ermög­li­chen, ganz unter­schied­li­che Kunst- und Kul­tur­for­men ken­nen­zu­ler­nen und aus­zu­pro­bie­ren, die für das eigene Leben berei­chernd sein könnten.

Kul­tu­relle Bil­dung gilt als Schlüs­sel für kul­tu­relle Teil­habe an einem wei­ten Spek­trum von Kunst und Kul­tur, und sie ist zugleich Wir­kung von kul­tu­rel­ler Teil­habe (Fuchs 2012). Ihr Aus­bau kann des­halb als eine wich­tige Stra­te­gie zur För­de­rung der kul­tu­rel­len Teil­habe gelten.

Kul­tu­relle Bil­dung setzt auf der Ebene des Sub­jekts an. Sie soll mög­lichst frühe posi­tive Erfah­run­gen mit viel­fäl­ti­gen For­men von Kunst und Kul­tur durch ver­schie­dene Mitt­ler­instan­zen ermög­li­chen und kul­tu­relle Selbst­bil­dungs­pro­zesse sti­mu­lie­ren. För­der­pro­gramme wie „Kul­tur macht stark“, die vor allem auf Kin­der und Jugend­li­che mit nied­ri­gen Teil­ha­be­chan­cen aus­ge­rich­tet sind, oder kon­ti­nu­ier­li­che Kul­tur­ange­bote im frei­wil­li­gen Bereich der Ganz­tags­schu­len zah­len dar­auf ein. Aber auch Koope­ra­tio­nen des Kul­tur­sek­tors mit sozia­len Ein­rich­tun­gen, Sport­ver­ei­nen, Betrie­ben und eine res­sort­über­grei­fende Zusam­men­ar­beit von Kul­tur, Bil­dung und Sozi­al­po­li­tik sind för­der­lich. Gut­schein­sys­teme wie der bun­des­weite Kul­tur­pass für Jugend­li­che, der für unter­schied­li­che kul­tu­relle Ange­bote ent­spre­chend der jewei­li­gen Inter­es­sen ein­ge­löst wer­den kann, kön­nen Teil­habe sti­mu­lie­ren, wenn sie mit Ver­mitt­lungs­pro­gram­men ver­bun­den sind.

Auf Ebene der Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen erhö­hen Stra­te­gien einer kon­se­quen­ten Publi­kums- und Teil­ha­be­ori­en­tie­rung ein­schließ­lich der damit ver­bun­de­nen Ver­än­de­rung von Pro­gram­men, For­ma­ten, Kom­mu­ni­ka­tion, Auf­ga­ben­spek­trum und Per­so­nal die Zugäng­lich­keit für unter­schied­li­che Bevöl­ke­rungs­grup­pen. Viele Kul­tur­or­ga­ni­sa­tio­nen rich­ten sich aktu­ell durch teil­ha­be­ori­en­tierte Audi­ence Deve­lo­p­ment- und Kul­tur­ver­mitt­lungs­stra­te­gien deut­lich stär­ker an den Inter­es­sen bis­lang nicht erreich­ter Bevöl­ke­rungs­grup­pen aus und füh­len sich stär­ker auch für soziale und gesell­schaft­li­che Auf­ga­ben zustän­dig. Dazu gehört die Öff­nung der Häu­ser als dritte Orte sowie viel­fäl­tige Ver­net­zun­gen in die Nach­bar­schaf­ten hin­ein im Sinne des Com­mu­nity Buil­ding. Teil­ha­be­ori­en­tie­rung kann auch die Mit­be­stim­mung über die Aus­rich­tung öffent­li­cher Kul­tur­ein­rich­tun­gen impli­zie­ren etwa durch Bürger-Beiräte.

Auf poli­ti­scher Ebene kön­nen klare Ziel­vor­ga­ben und Prio­ri­tä­ten für Teil­habe und Ver­mitt­lung in staat­lich sub­ven­tio­nier­ten Kul­tur­or­ga­ni­sa­tio­nen und ver­bind­li­che Vor­ga­ben für Koope­ra­tio­nen zwi­schen Kul­tur- und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen sowie die cur­ri­cu­lare Ver­an­ke­rung kul­tu­rel­ler Bil­dungs­ak­ti­vi­tä­ten für alle Schü­le­rin­nen und Schü­ler Vor­aus­set­zun­gen für eine chan­cen­ge­rechte kul­tu­relle Teil­habe schaffen.

Kul­tu­relle Teil­habe bie­tet Poten­ziale für soziale und poli­ti­sche Teil­habe, kann indi­vi­du­elle Per­spek­ti­ven erwei­tern, Lebens­qua­li­tät und per­sön­li­chen Gestal­tungs­ra­dius erhö­hen, aber auch Empa­thie für andere Lebens­wei­sen sti­mu­lie­ren. Dass Kunst und Kul­tur gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt und damit die Demo­kra­tie för­dern, ist eine der zen­tra­len Begrün­dun­gen für die staat­li­che Kul­tur­för­de­rung in Deutsch­land. Dies lässt sich nur durch eine breite Teil­habe an einem gemein­sam zu gestal­ten­den kul­tu­rel­len Leben ein­lö­sen: Men­schen unter­schied­li­cher sozia­ler und poli­ti­scher Hin­ter­gründe über die Teil­habe an Kunst und Kul­tur zusam­men­zu­brin­gen, die sonst nicht mehr mit­ein­an­der spre­chen, erweist sich aktu­ell als zen­trale Her­aus­for­de­rung für Kul­tur­ein­rich­tun­gen und Kulturpolitik.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 3/2025.

Von |2025-04-24T16:56:10+02:00April 24th, 2025|Einwanderungsgesellschaft, Kulturelle Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Kul­tu­relle Teil­habe för­dert die Demokratie

Dis­kurse, empi­ri­sche Befunde und Strategien

Birgit Mandel ist Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Dort leitet sie den Studienbereich Kulturvermittlung und Kulturmanagement.