Infor­ma­tion, Begeg­nung, Mün­dig­keit und Mitgestaltung

Biblio­the­ken als Räume gesell­schaft­li­cher Teilhabe

Sonn­tag für Sonn­tag strö­men etwa 2.000 Ham­bur­ge­rin­nen und Ham­bur­ger in die Zen­tral­bi­blio­thek der Ham­bur­ger Bücher­hal­len am Hüh­ner­pos­ten 1, ganz in der Nähe des Haupt­bahn­ho­fes. Seit Sep­tem­ber 2021 wird die Sonn­tags­öff­nung der Bücher­hal­len im Rah­men eines Pilot­pro­jek­tes vom Senat geför­dert. Obwohl die Türen an den Sonn­ta­gen nur fünf Stun­den geöff­net sind, von 13 bis 18 Uhr, ver­zeich­nen die Bücher­hal­len teils ver­gleich­bar viele Besu­che wie an man­chen Wochen­ta­gen mit zehn Stun­den, also dop­pelt so lan­gen Öffnungszeiten.

Mit ein Grund dafür ist die ver­än­derte Rolle und Nut­zung von Biblio­the­ken im Ver­gleich zu frü­he­ren Zei­ten. Über die Hälfte der Besu­che­rin­nen und Besu­cher machen sich auf den Weg, um in der Biblio­thek zu arbei­ten und zu ler­nen (51 Pro­zent). Das ergibt eine Befra­gung, die in den Bücher­hal­len 2023 an meh­re­ren Sonn­ta­gen unter Nut­ze­rin­nen und Nut­zern durch­ge­führt wurde. Andere kom­men, um jeman­den zu tref­fen (18 Pro­zent), eine Ver­an­stal­tung zu besu­chen (16 Pro­zent), ins Café zu gehen (20 Pro­zent) oder ein­fach nur, um mit und inmit­ten ande­rer Men­schen eine Zei­tung oder ein Buch zu lesen (40 Pro­zent). Die Biblio­thek ist – und das nicht nur in Ham­burg – damit ein Ort der Begeg­nung, des Aus­tauschs, des gesell­schaft­li­chen Lebens. Im Jar­gon von Biblio­the­ka­rin­nen und Biblio­the­ka­ren: Die Biblio­thek ist ein „Drit­ter Ort“.

Wer kommt in die Biblio­thek? Der Quer­schnitt einer ziem­lich bun­ten Gesell­schaft. Fast die Hälfte (48 Pro­zent) sind unter 30 Jah­ren, 24 Pro­zent davon unter 20. Neben Jün­ge­ren sind Fami­lien mit 29 Pro­zent die wich­tigste Ziel­gruppe. Mehr als jeder Zweite hat einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Über die Hälfte der Besu­che­rin­nen und Besu­cher blei­ben zwei und mehr Stun­den in der Biblio­thek. Was die Befrag­ten gemacht hät­ten, hätte das Haus am Hüh­ner­pos­ten nicht geöff­net? Über die Hälfte (53 Pro­zent) gibt an, keine Alter­na­tive zu haben. Sie wären zu Hause geblie­ben. Kurz, Biblio­the­ken stel­len Öffent­lich­keit her, füh­ren Men­schen in den öffent­li­chen Raum. Und das nicht nur an Sonntagen!

Wenn gute Pra­xis an recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen scheitert

Das Bei­spiel Ham­bur­ger Bücher­hal­len macht deut­lich, warum die gän­gige Kri­tik an der gesetz­li­chen Ermög­li­chung der Sonn­tags­öff­nung von öffent­li­chen Biblio­the­ken, wie sie der Biblio­theks­ver­band schon seit meh­re­ren Jah­ren for­dert, am Thema vor­bei geht. Ein Buch aus­lei­hen oder zurück­ge­ben, das könne man ja auch nach Schul- oder Dienst­schluss, heißt es dann – ohne Kennt­nis des Ent­wick­lungs­we­ges, den öffent­li­che Biblio­the­ken in den letz­ten Jah­ren zurück­ge­legt haben. Umso ärger­li­cher ist es, dass das im Koali­ti­ons­ver­trag der aus­lau­fen­den Legis­la­tur­pe­ri­ode ver­an­kerte Ziel der Anpas­sung des Bun­des­ar­beits­zeit­ge­set­zes geschei­tert ist. Die Sonn­tags­öff­nung gibt es daher bis­lang nur im Rah­men ver­schie­de­ner Pilot­pro­jekte wie in Ham­burg oder der Ber­li­ner Zen­tral- und Lan­des­bi­blio­thek und in Nord­rhein-West­fa­len. Hier hat die Lan­des­re­gie­rung 2021 mit einem Biblio­theks­ge­setz ent­spre­chende Rah­men­be­din­gun­gen geschaf­fen. Die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ande­rer Städte und Regio­nen müs­sen sich vor­erst noch in Geduld üben. Nach­dem gewerk­schaft­lich der Kla­ge­weg beschrit­ten wurde, haben das Ober­lan­des­ge­richt in Müns­ter und das Bun­des­ver­wal­tungs­ge­richt das Biblio­theks­ge­setz von NRW bestä­tigt. Es ist damit nur eine Frage der Zeit, bis auch andere Län­der ver­gleich­bare Rege­lun­gen erlas­sen. Es sei denn, der Bund schafft in der kom­men­den Legis­la­tur­pe­ri­ode doch noch ein­heit­li­che Rah­men­be­din­gun­gen durch die Anpas­sung des Arbeits­zeit­ge­set­zes, was alles viel leich­ter machen würde.

Die Biblio­thek als sozia­ler und phy­si­scher Raum

„Jeder hat das Recht, in der Biblio­thek zu sein. Her­um­hän­gen ist erlaubt, ja sogar erwünscht. Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung haben in die­ser Biblio­thek kei­nen Platz. Oodi ist unser gemein­sa­mes Wohn­zim­mer.“ So steht es auf einer Tafel im ers­ten Stock der Biblio­thek Oodi in Hel­sinki. Der 2018 fer­tig­ge­stellte Neu­bau wird mitt­ler­weile von 7.000 Men­schen täg­lich besucht.

Diese schlichte For­mu­lie­rung spie­gelt wider, wie Biblio­the­ken das Kon­zept des drit­ten Ortes heute umset­zen. Der erste, der fami­liäre Ort, ist pri­vate Sphäre. Der zweite Ort, die Arbeits­welt, ist durch Ver­bind­lich­kei­ten, Erwar­tun­gen und Vor­ga­ben struk­tu­riert. Dritte Orte sind das Ange­bot einer allen zugäng­li­chen und frei­wil­li­gen Öffent­lich­keit. Dafür bie­ten Biblio­the­ken Räume mit hoher Auf­ent­halts­qua­li­tät, die mul­ti­funk­tio­nal genutzt wer­den kön­nen. Neben dem nor­ma­len Aus­leih­ge­schäft fin­den auch Schreib­werk­stät­ten statt, Ange­bote der Lese- und Medi­en­kom­pe­tenz, Lesun­gen und Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tun­gen. In Stu­dios oder Pro­be­räu­men wird Musik gemacht, Maker Spaces för­dern Krea­ti­vi­tät im Umgang mit digi­ta­len Tech­no­lo­gien. Vor allem aber geht es bei Drit­ten Orten um Ange­bote zum Ver­wei­len und Auf­hal­ten, ohne Konsumzwang.

Das macht Biblio­the­ken zu leben­di­gen Kul­tur- und Bil­dungs­or­ten und damit zugleich zu attrak­ti­ven Lebens­wel­ten des gesell­schaft­li­chen All­tags. Ihre Bedeu­tung nimmt zu, je mehr Innen­städte ver­öden und von Leer­stän­den gezeich­net sind und in länd­li­chen Regio­nen gewach­sene all­täg­li­che Begeg­nungs­orte rarer wer­den und zivil­ge­sell­schaft­li­che Struk­tu­ren aus­dün­nen. Biblio­the­ken wer­den dann zu Infra­struk­tu­ren des gesell­schaft­li­chen Alltags.

Diese Ent­wick­lung konnte in den letz­ten Jah­ren nur gelin­gen, weil Biblio­the­ken ein außer­ge­wöhn­lich hohes Ver­trauen ent­ge­gen­ge­bracht wird. Die jähr­li­chen Befra­gun­gen des Beam­ten­bun­des zei­gen, dass die Arbeit von Biblio­the­ken unter allen öffent­li­chen Frei­zeit-, Bil­dungs- und Kul­tur­ange­bo­ten in der Wahr­neh­mung von Bür­ge­rin­nen und Bür­gern die höchs­ten Zustim­mungs­werte erhält. Das spie­gelt sich in den Nut­zungs­zah­len. Mit 166 Mil­lio­nen Besu­chen in 2023 sind Biblio­the­ken die meist­be­such­ten Kultureinrichtungen.

Medien- und Infor­ma­ti­ons­kom­pe­tenz in der digi­ta­len Informationsgesellschaft

Das Bereit­stel­len von Medien wird von Biblio­the­ken beglei­tet durch Bil­dungs­an­ge­bote, sich diese kom­pe­tent zu erschlie­ßen. Mit ihrer Arbeit im Bereich der Medien- und Infor­ma­ti­ons­kom­pe­tenz leis­ten Biblio­the­ken einen zen­tra­len Bei­trag zum Zugang zu Infor­ma­tio­nen, Teil­habe und damit zu unse­rer Demo­kra­tie. Denn Infor­ma­ti­ons- und Medi­en­kom­pe­tenz sind Schlüs­sel­qua­li­fi­ka­tio­nen der moder­nen Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft. Mit ihren Ange­bo­ten und kos­ten­lo­sen Bera­tun­gen ermög­li­chen Biblio­the­ken nicht nur den Zugang zu digi­ta­len und ana­lo­gen Medien, son­dern unter­stüt­zen auch bei der Ein­ord­nung von Nach­rich­ten, bei der Beur­tei­lung von Quel­len oder dem Erken­nen von Falschinformationen.

Bis in die 2000er Jahre kon­zen­trier­ten sich Ange­bote der Infor­ma­ti­ons­kom­pe­tenz auf die rich­tige Lite­ra­tur­re­cher­che oder die Veri­fi­ka­tion von Fak­ten­in­for­ma­tio­nen in Tages­presse und Nach­rich­ten. Den digi­ta­len Struk­tur­wan­del unse­rer Öffent­lich­keit und aktu­elle Her­aus­for­de­run­gen der sys­te­ma­ti­schen Des­in­for­ma­tion sowie die Ver­brei­tung von Ver­schwö­rungs­theo­rien greift eine neue Gene­ra­tion von Bil­dungs­an­ge­bo­ten zur Infor­ma­ti­ons­kom­pe­tenz auf. Gute Bei­spiele dafür sind das Pro­gramm „Die Faktenforscher*innen“ der Stadt- und Regio­nal­bi­blio­thek Erfurt und das Plan­spiel „FakeH­un­ter“ der Büche­rei­zen­trale Schles­wig-Hol­stein. Biblio­the­ken stär­ken damit auf viel­fäl­tige Weise die digi­tale Sou­ve­rä­ni­tät von Menschen.

Biblio­the­ken als Platt­for­men für zivil­ge­sell­schaft­li­ches Engagement

Räume von Biblio­the­ken wer­den gesell­schaft­lich mit­ge­stal­tet. Part­ner der Pro­gramm­ar­beit sind häu­fig zivil­ge­sell­schaft­li­che Akteure. So wer­den zusätz­li­che Bil­dungs­an­ge­bote ermög­licht und Ver­ei­nen und Enga­gier­ten Räume für ihre Arbeit zur Ver­fü­gung gestellt. Auch Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen, Dis­kus­sio­nen und Vor­träge wer­den in Koope­ra­tion mit gemein­nüt­zi­gen Akteu­ren ausgerichtet.

Das Eck­punk­te­pa­pier, das das Ber­li­ner Biblio­theks­ge­setz vor­be­rei­tet, spricht Biblio­the­ken zudem die Funk­tion von Raum­pro­vi­dern zu. Diese Aus­sage reagiert auf die unter Ver­ei­nen und Initia­ti­ven durch Teue­rung von Mie­ten ent­stan­dene Raum­not, gerade in Ber­lin ein wach­sen­des Pro­blem. Der PopUp-Bau der Ame­rika-Gedenk­bi­blio­thek mit Arbeits­plät­zen, einem Medi­en­la­bor und Ver­an­stal­tungs­räu­men ist ein Bei­spiel für offene Raum­an­ge­bote, die zivil­ge­sell­schaft­li­che Selbst­or­ga­ni­sa­tion ermög­li­chen und Raum­al­ter­na­ti­ven anbieten.

Wäh­rend klei­nere Biblio­the­ken frei­wil­lig Enga­gierte häu­fig über ihre Freun­des­kreise gewin­nen, öff­nen sich große öffent­li­che und teils auch wis­sen­schaft­li­che Biblio­the­ken zuneh­mend dem bür­ger­schaft­li­chen Enga­ge­ment und set­zen eigene Vol­un­teer Manage­ment Pro­gramme auf oder Frei­wil­li­gen­ko­or­di­na­to­ren ein. In wis­sen­schaft­li­chen Biblio­the­ken, etwa der Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin, arbei­ten Ehren­amt­li­che im Rah­men von Citi­zen Sci­ence-Pro­jek­ten mit und brin­gen sel­tene Exper­ti­sen ein, die selbst große Teams nicht vor­hal­ten kön­nen. In öffent­li­chen Biblio­the­ken sind die Mit­wir­kungs­mög­lich­kei­ten brei­ter gestreut. Von der Mit­wir­kung im Repair Café, dem Digi­tal­stamm­tisch für Senio­ren, bis zu Sprach­kur­sen von und für Zuge­wan­derte sind die Mög­lich­kei­ten der Mit­ge­stal­tung endlos.

Zusam­men­ge­nom­men sind Biblio­the­ken Publi­kums­ma­gnete, för­dern Begeg­nung und Dia­log, sind nied­rig­schwel­lig zugäng­lich, stär­ken digi­tale Mün­dig­keit und Infor­ma­ti­ons­kom­pe­tenz und regen zur akti­ven Mit­ge­stal­tung an. Der Bei­trag von Biblio­the­ken zur Bear­bei­tung von aktu­el­len gesell­schaft­li­chen Her­aus­for­de­run­gen wie Pola­ri­sie­rung, Des­in­for­ma­tion und Ein­sam­keit liegt auf der Hand. Nun braucht es den poli­ti­schen Gestal­tungs­wil­len von Bund und Län­dern, die­sen in kom­mende poli­ti­sche Stra­te­gien klug einzubinden.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 3/2025.

Von |2025-04-24T17:30:56+02:00April 24th, 2025|Bürgerschaftliches Engagement, Einwanderungsgesellschaft, Kulturelle Vielfalt, Teilhabe|Kommentare deaktiviert für

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Holger Krimmer ist Bundesgeschäftsführer des Deutschen Bibliotheksverbandes.